Ich will ganz ehrlich sein: Ich hätte Colin Kaepernick gerne in Miami gesehen. Nicht, weil ich finde, dass er eine weitere Chance verdient hat - hat er - oder weil es an der Zeit ist, die Diskussion über den Hymnen-Protest selbst - anstatt das Thema, wofür der Protest stand zu betonen - zu den Akten zu legen - ist es.
Nein, vielmehr, weil ich Kaepernick gerne in der mit Play-Action-Pässen und Rollouts gespielten Offense von Dolphins-Coach Adam Gase gerne gesehen hätte. Gase hat es verstanden, die Athletik von Ryan Tannehill vernünftig einzusetzen, und damit sind keine Read-Option-Spielzüge oder dergleichen gemeint. Unter Gase hat Tannehill einen sichtbaren Schritt nach vorne gemacht, in puncto Pocket-Arbeit, aber auch etwa was den Deep Ball angeht.
Doch Gase und die Dolphins entschieden sich dafür, Jay Cutler aus dem Ruhestand zu holen und somit ultimativ auch dafür, ihre Saison in die Hände des Ex-Bears-Quarterbacks zu legen. Das hat am Sonntagabend in den (sozialen) Medien für jede Menge Diskussionsstoff gesorgt.
Allerdings zeigt das Miami-Beispiel keineswegs, dass Kaepernick von der NFL gezielt ausgeschlossen wird. Stattdessen werden die vielen Ebenen sichtbar, die bei einer Quarterback-Verpflichtung, insbesondere wenn wir von einem neuen Starter sprechen, eine Rolle spielen. Und das hat zunächst einmal nichts mit Kaepernicks Protesten zu tun.
Miami ein ironisches Pflaster für Kaepernick
Das berüchtigte Fidel Castro Shirt - ein T-Shirt mit einem Bild von Castro und Malcolm X, das Kaepernick während der vergangenen Saison getragen hatte, und das er auf wiederholte Nachfrage verteidigte - machte die Sache im von Kubanern geprägten Miami nicht leichter. Doch hätten die Dolphins allein deshalb auf Kaepernick verzichtet? Nein.
Miami war ein fast schon ironisches Pflaster für Kaepernick, stand doch die ganze Castro-Sache der Tatsache Seite gegenüber, dass Dolphins-Besitzer Stephen Ross der eine Franchise-Eigentümer war, der gegenüber Kaepernicks Protest offene Zustimmung ausdrückte: Bereits nach dem ersten Spiel der vergangenen Regular Season stärkte er die Spieler aus seinem Team, die ebenfalls während der Hymne gekniet hatten und stellte klar, dass er den Protest "zu 100 Prozent" unterstütze.
In Baltimore lässt sich im Zuge der öffentlichen Erklärung, man höre sich um, was andere von einer möglichen Verpflichtung halten würden, immer deutlicher erkennen, dass Ravens-Besitzer Steve Bisciotti Kaepernick nicht in seinem Team haben will. Dieses Argument kann man bei den Dolphins so einfach nicht in den Raum werfen.
Gerne wird auf Twitter und auch medial bei Kaepernick schnell vom "Blackballing" gesprochen, also der vermeintlichen Einigung der NFL-Teams untereinander, Kaepernick nicht zu verpflichten. Die Situationen aber müssen individuell beurteilt werden. Man macht es sich schlicht zu einfach, bei Kaepernick automatisch von einer Verschwörung auszugehen. Und das nicht nur, weil nach wie vor niemand weiß, wie viel Gehalt Kaep verlangt.
Die sensible Quarterback-Suche
Miami hat Kaepernick nicht aufgrund seines Protests nicht verpflichtet. Und auch wenn die Castro-Sache seinen Stand mit Sicherheit erschwert hat, war sie ebenfalls nicht der finale Grund. In der NFL geht es unter dem Strich immer ums Gewinnen. Jobs stehen auf dem Spiel, Gase kann sich eine verlorene Saison nicht leisten.
Er hat ein talentiertes Team, das vielleicht noch kein Contender ist, aber doch Playoff-Qualitäten mit sich bringt. Wenn die Quarterback-Frage geklärt ist. In solchen Situationen suchen sich Coaches Quarterbacks, die sie kennen und denen sie vertrauen.
Deshalb blieb Gase auch dran, als Cutler zunächst sagte, dass er kein Interesse hätte. Deshalb gab es einen durchaus beachtlichen Deal. Man darf nicht vergessen: In fast exakt fünf Wochen spielen die Dolphins gegen Tampa Bay. In der Regular Season, wenn es zählt. Die Training Camps sind längst in vollem Gange und in dieser Situation musste Miami jetzt die wichtigste Position neu besetzen.
Der Quarterback muss nicht nur Leader sein, er muss die Offense und ihre Nuancen, das Playbook und die "Sprache" (also Bezeichnungen für Spielzüge, Protections, und so weiter) des Coaches kennen. Cutler bringt diese kritischen Voraussetzungen zu einem großen Teil mit, hatte er doch unter Gase in Chicago 2015 eine seiner besten NFL-Spielzeiten.
Was wird aus Colin Kaepernick?
Und noch mehr: Gase dürfte sogar die gleiche Formel, die mit Cutler schon einmal funktioniert hat, wieder anwenden. Gase schraubte Cutlers Würfe 2014 auf 2015 von 561 auf 483 runter. Er vertraute dem Running Game und nutzte fraglos Cutlers talentierten Arm, um das Run Game zu ergänzen - anstatt, wie zu häufig in den vergangenen Jahren, Cutler die Offense tragen zu lassen. Mit Jay Ajayi und einer fitten Offensive Line kann das auch in Miami wieder gelingen. Das dürfte ein maßgeblicher Grund dafür sein, dass sich Cutler hat umstimmen lassen.
Kombiniert man all diese Faktoren, macht die Verpflichtung des häufig kritisierten 34-Jährigen ganz sportlich betrachtet mehr als nur Sinn. Und somit bleibt vor allem eine Frage: Was wird aus Colin Kaepernick?
Kaep soll bereit sein, als Backup zu unterschreiben. Das dürfte auch bedeuten, dass seine finanziellen Ansprüche eher überschaubar sind. Die Situation rund um den Quarterback und die Baltimore Ravens zeigt viel eher, dass auch Faktoren außerhalb des Platzes eine Rolle spielen, als es die in Miami jetzt vermeintlich offenbart.
Liegt deshalb eine Verschwörung gegen Kaepernick vor? Nein. Wenngleich die allgemein wenigen Anfragen an den 29-Jährigen überraschend sind, so gibt es doch zumindest Interesse. Erst Seattle, dann Baltimore, jetzt Miami. Es muss klar sein, dass bei einer möglichen Kaepernick-Verpflichtung alle Faktoren passen müssen - dazu gehört die persönliche Meinung des Team-Besitzers, aber auch das Scheme, der Coach, das Finanzielle. In Miami, das muss man so klar sagen, hat Jay Cutler zum jetzigen Zeitpunkt besser gepasst.