Ein Mann der großen Worte war Marshawn Lynch nie.
Nicht mal dann, wenn er es eigentlich hätte sein müssen. Stattdessen trat er einst vor dem Super Bowl bei der obligatorischen Presserunde vor die Medienvertreter, ließ die Sonnenbrille auf und predigte fünf Minuten lang ein und denselben Satz: "I'm just here so I won't get fined." "Ich bin nur hier, damit ich keine Strafe bekomme."
Es verwundert nicht, dass Lynch vor, während oder nach seiner Unterschrift bei den Oakland Raiders nicht eine einzige Stellungnahme abgegeben hat. Seine Ankunft bei der Vertragsunterzeichnung in seiner Heimatstadt war ohnehin aussagekräftiger, als es jede Phrase hätte sein können.
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Wie ein kleines Kind, das endlich zum Weihnachtsbaum gelassen wird und die Geschenke aufreißt, nahm Lynch den silbernen Helm mit dem Piraten-Logo in die Hände, setzte ihn sich auf und bekam das Grinsen nicht aus dem Gesicht.
Den Helm nahm er natürlich nicht mehr ab. Damit stolzierte er aus dem Gebäude am Harbor Bay Parkway.
Blockparty a la Lynch
Wenige Wochen später hatte Lynch den Raiders-Helm gegen eine Raiders-Cap getauscht. Warum er sich so schick gemacht hat? Nun, Lynch hatte ein paar Gäste zu sich eingeladen. Wenn auch nur ein paar Hundert.
Zur Feier seiner Rückkehr nach Oakland schmiss Lynch eine Blockparty in seinem alten Viertel. Eingeladen war jeder, der Lust und Hunger mitbrachte. Auch Draymond Green ließ sich Bier und Barbecue nicht entgehen.
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Und es wurde nicht nur gegessen und getrunken, um Lynchs Heimkehr zu feiern: Da professionelle Sportler schließlich auf Ernährung und Bewegung achten müssen, hatte Lynch gleich noch eine gute Idee. Gemeinsam mit rund 300 bis 400 sportbegeisterten Einwohnern Oaklands startete er eine Radtour durch die Stadt.
Über Ägypten und Korsika nach Kalifornien
Es war in gewisser Weise der Abschluss einer langen Reise, die Lynch in seinem Kurz-Ruhestand angetreten hatte. War er doch vor wenigen Monaten noch auf einem Kamel durch die Wüste Ägyptens geritten oder gemeinsam mit Bear Grylls in der Wildnis Korsikas ausgesetzt worden. Auch die zwischenzeitlich vorangetriebene Schauspiel-Karriere muss jetzt erst einmal pausieren.
Zweifelsohne ist Lynchs Rücktritt vom Rücktritt und seine Rückkehr in die Heimat eine der schönsten Geschichten des Früh-Sommers. In Oakland aufgewachsen und zur Schule gegangen, wollte der Running Back schon zu College-Zeiten nicht allzu weit weg von zuhause. Lynch lebt Oakland, er ist Oakland, daran gibt es keinen Zweifel. Jene Stadt, in der er in einem Armenviertel aufwuchs, wo Drogen-Deals, Straßen-Prostitution und Schießereien zum Alltagsbild gehörten.
Er engagiert sich in der Stadt, deren Namen er in großen Buchstaben über die Brust tätowiert hat, hilft den Armen und setzt sich dafür ein, dass es den Menschen in Oakland besser geht. Noch während seiner Zeit bei den Seahawks kehrte er über den Sommer nach Oakland zurück, bei ESPN stellte er im Rahmen einer Doku damals klar: "Ich soll verdammt sein, wenn irgendwer aus Oakland sagt, dass Marshawn nicht mehr zurück kommt und nichts für die Gemeine hier tut. Denn das wäre definitiv eine Lüge."
Nach seiner Zeit an der University of California in Berkeley jedoch war es ihm nicht mehr überlassen, die Wahl für seine neue Heimat zu treffen. So landete Lynch in Buffalo, New York. Und später in Seattle, Washington. Und irgendwann über Ägypten wieder in Oakland, Kalifornien.
Dazwischen liegen 9.112 Rushing- und 1.979 Receiving-Yards, 83 Touchdowns, ein Super-Bowl-Sieg, eine Super-Bowl-Tragödie und natürlich der vielleicht größte, prägendste der unzähligen Beast-Mode-Momente - der Erdbeben-Run im Playoff-Spiel gegen die New Orleans Saints.
Der Rücktritt vom Rücktritt
Am Ende einer verletzungsgeprägten Saison 2015 allerdings mochte er plötzlich nicht mehr weitermachen. Wie auch sonst, als mit einem einfachen Peace-Zeichen und einem Foto mit seinen aufgehängten Football-Stiefeln hätte Lynch passender Auf Wiedersehen sagen können.
Warum es soweit kam? Das entlockte ihm ausgerechnet Survival-Experte Grylls irgendwo auf halber Höhe des Monte Cinto. "Nur wenige Spieler verlassen die Liga auf dem Höhepunkt, so wie ich es getan habe", meinte Lynch. "Das ist mein persönliches Karriere-Highlight."
Draft-Grade für alle 32 NFL-Teams
Dieses Highlight tauscht Lynch jetzt gegen das Privileg ein, für seine Heimatstadt spielen zu können und Oaklands Head Coach Jack Del Rio zeigte sich bereits begeistert über seine neue Waffe im Backfield: "Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals jemanden gesehen habe, der sich so sehr auf sein neues Team freut wie er."
Eine Waffe, die Del Rio nach dem Abgang Latavius Murrays nach Minnesota zweifelsohne gebraucht hat. Mit seinen insgesamt über 1.000 Yards und zwölf Touchdowns hatte er neben Fast-MVP-Quarterback Derek Carr maßgeblichen Anteil an Oaklands erster Playoff-Teilnahme seit 2002.
Was ist noch drin im Tank?
So hinterließ Murray eine große Lücke, von der noch niemand weiß, inwieweit Lynch sie ausfüllen kann. Schließlich liegt seine letzte Partie in der NFL schon fast 16 Monate zurück.
"Natürlich wird es Fragen geben, wie viel er noch im Tank hat", erklärte Del Rio. "Das versuchen wir herauszufinden. Ich sehe bei ihm Leidenschaft, er ist sehr heimatverbunden. Er ist extrem begeistert, Teil der Raider Nation zu werden und wir sind extrem begeistert, ihn hier zu haben."
Das SPOX-Power-Ranking nach dem Draft
Kommt Beast Mode tatsächlich nochmals in Topform zurück, haben die Patriots in der AFC einen ernsthaften Konkurrenten. Dann nämlich würde jener Marshawn Lynch, der die Liga mit riesigem Abstand in Yards nach Gegnerkontakt anführte und so schwache Seahawks-Lines überspielte hinter einer der besten Lines in der NFL laufen - eine verlockende Kombination.
Sehen wir allerdings den 2015er Lynch, dann war die Rückkehr womöglich doch nicht mehr als eine gute Werbekampagne.
Carrs nächster Sturm auf die Trophäe
Die Offense der Raiders um das Run Game herum jedenfalls könnte Lynch die Rückkehr kaum angenehmer gestalten. Das Receiving-Corps neben Amari Cooper und Michael Crabtree hat mit Jared Cook einen grundsoliden Pass-Catching Tight End dazugewonnen, im Passing Game sollte Oakland den nächsten Schritt machen können.
Und dann wartet da noch Derek Carr auf seine vierte Spielzeit. Wer weiß, wohin die vergangene Saison die Raiders gebracht hätte, wäre da nicht dieser eine Schockmoment in Week 16 gegen die Colts gewesen. Das Wadenbein war gebrochen und die Saison beendet. Nicht nur für Carr. Auch für die Raiders. Gegen die sonst keinesfalls besseren Texans war Ersatz und Rookie Connor Cook in der Wild-Card-Runde schlichtweg ohne echte Chance.
Carr, der das Drama aus dem Krankenbett mit ansah, musste gleichzeitig jegliche, berechtigte MVP-Hoffnungen begraben. In der Offseason meldete sich der 26-Jährige wieder zurück und auch zu Wort. Er würde sich wünschen, mal mit Lynch zu spielen. Jeder würde das. Da war der Trade mit den Seahawks noch nicht unter Dach und Fach gebracht. Wenige Wochen später wurde aus dem Wunsch Realität.
Neben DeAndre Wahsington und Jalen Richard, die Murray im letzten Jahr schon entlasten konnten, ist die ohnehin schon eingespielte Offense der Raiders mit Lynch nun um ein Biest reicher. Wenn es denn eins wird.
Doch was auch immer ab Anfang September auf dem Platz geschieht: Abseits davon bleibt Lynch ein Junge der Stadt, der seine Wurzeln niemals vergessen wird. Der mit seiner "Family Foundation" auch weiter benachteiligte Kinder unterstützt. Und der vielleicht auch mal das Thanksgiving Game aussetzt, um in seinem Viertel Truthahn zu servieren. Auch ohne großes Gerede.