"Die Chemie, die wir haben, unterscheidet sich enorm von der vergangener Jahre. Wir sind komplett, wir sind auf der gleichen Wellenlänge." Mit einer solchen Aussage eines Spielers der Philadelphia 76ers war vor wenigen Wochen noch nicht zu rechnen gewesen, Joel Embiid tätigte sie am Wochenende in Chicago dennoch.
Soeben hatten die Sixers, angeführt vom überragenden Embiid (30 Punkte, 15 Rebounds, 4/5 3FG), bei den Bulls gewonnen und den sechsten Sieg in Folge eingefahren. Auch nach der Niederlage gegen die Knicks grüßt das Team aus der Stadt der Brüderlichen Liebe von der Spitze des Ostens (8-3).
Jeder, so führte Embiid weiter aus, habe etwas zu beweisen, auch abseits des Sports herrsche Harmonie. "Wir unternehmen viel miteinander, genießen die Zeit, das macht es einfacher für uns, auch auf dem Feld." Der 8-2-Start war der beste für die Franchise seit der Saison 2000/01 - damals ging es für die Truppe um Allen Iverson sogar bis in die Finals. Auch heute sind die Erwartungen hoch.
Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, dass trotz allem die Schlagzeilen in Philly in erster Linie Simmons gehören. Erst herrschte vollkommene Funkstille, dann warf Coach Doc Rivers den lustlosen Australier aus dem Training, später offenbarte er mentale Probleme, wollte diese aber nicht in Absprache mit der Franchise lösen und wurde deshalb erneut bestraft. Nun hat sich das zumindest geändert, wann und ob Simmons zurückkehrt, steht aber weiter in den Sternen.
Sixers-Coach Rivers schwärmt: "Großartige Situation"
In Chicago zeigte das Team, dass diese Nebengeräusche für den Moment nicht zählen. Zum zweiten Mal in vier Tagen setzten sich die Sixers gegen aufstrebende Bulls durch, wobei die Gäste gerade einmal auf eine Acht-Mann-Rotation zurückgreifen konnten. Doch diese lieferte: Furkan Korkmaz traf 7 Dreier, Georges Niang einen wichtigen Distanzwurf in der Schlussphase und Rivers durfte in der Folge den 1.000 Sieg seiner Coaching-Karriere feiern.
Im Nachgang schwärmte der Coach nicht nur von seinem Franchise-Spieler, sondern vom Team im Gesamten. "Wir befinden uns in einer großartigen Situation und müssen dafür sorgen, dass wir diese beibehalten." Erstaunliche Worte, bedenkt man, dass bisher lediglich Seth Curry, Tyrese Maxey und Niang in allen Partien zur Verfügung standen.
Neben Matisse Thybulle und Isaiah Joe befand sich zu diesem Zeitpunkt mit Tobias Harris auch der (ohne Simmons) zweitbeste Spieler des Teams im Corona-Protokoll, mit Danny Green schlägt sich ein wichtiger Veteran hin und wieder mit Wehwehchen herum. Nun hat sich auch noch Embiid selbst ins Protokoll verabschiedet und wird wohl einige Spiele aussetzen müssen.
Es ist ein guter Zeitpunkt für Spieler aus der zweiten Reihe, sich in den Vordergrund zu spielen, was Korkmaz, Niang und Co. bisher bestens gelang. Insbesondere letzterer erhielt von Embiid ein fettes Lob: "Ich dachte eigentlich, dass er schlecht ist, um ehrlich zu sein. Aber jetzt bin ich froh, dass er bei uns ist." Der ehemalige Jazz-Forward (38 Prozent aus der Distanz bei über 6 Versuchen) hingegen bedankte sich beim Coaching-Stab für das in ihn gesetzte Vertrauen und erklärte so seine starken Leistungen.
Sixers: Der zweite Anzug sitzt
Geschichten wie diese lassen sich auch über weitere Akteure erzählen. Korkmaz glänzt als erster Spieler von der Bank neben seinem Shooting als Playmaker und hat in seiner fünften Saison in der Liga scheinbar den nächsten Entwicklungsschritt vollzogen. Shake Milton jagte Bulls-Star Zach LaVine über das gesamte Feld des United Centers und hielt ihn bei 8 Punkten bei 8 Würfen. G-League-MVP Paul Reed durfte gegen Chicago zum ersten Mal starten.
Auffällig (wenn auch nicht sonderlich überraschend) ist außerdem: Ohne Simmons hat sich das Spacing deutlich verbessert. Die Sixers nehmen zwar nicht allzu viele Dreier, treffen diese jedoch hochprozentig (39,4 Prozent, Platz eins). Auch die Quoten aus dem Zweierbereich sind hervorragend (49,6 Prozent), Tyerese Maxey trifft von dort sogar 58 Prozent.
Embiid hat währenddessen mehr Verantwortung als Ballhandler übernommen, einem Karrierebestwert bei den Assists (4,0) stehen die wenigsten Turnover (3,0) seiner Laufbahn gegenüber. Es läuft also sehr gut, zumindest dann, wenn Embiid zur Verfügung steht. Die Frage bleibt dennoch bestehen: Ist diese Entwicklung wirklich nachhaltig?
Philadelphia 76ers: Ohne Ben Simmons wirklich besser?
Es steht außer Frage, dass den Sixers ohne Simmons (der nun auch mit den Celtics in Verbindung gebracht wurde) gewisse Qualitäten abgehen. Maxey musste bei den Siegen in Detroit und Chicago kumuliert 89 Minuten auflaufen, auch nach der Rückkehr der fehlenden Spieler wird sich das Defizit im Backcourt nur geringfügig auflösen. Ein ausgewiesener Creator im Halbfeld war Simmons nicht, doch auch als Gegenwert für den 25-Jährigen in einem möglichen Trade scheint dieses Problem kaum behoben werden zu können. Aus Embiid wird auf die Schnelle kein Nikola Jokic.
Zudem ist ein gewisser Einbruch in der Defensive wohl unvermeidbar. Die letzte Saison beendete Philadelphia noch auf Platz drei beim Defensive-Rating, neben Thybulle und Embiid muss allerdings nach gehobener Qualität an diesem Ende des Feldes verzweifelt gesucht werden. Viel wurde bisher durch Einsatz und Leidenschaft kompensiert - ist das ein dauerhaftes Erfolgsrezept?
Denn es sei dazu gesagt: Die Schwierigkeit des bisherigen Spielplans hielt sich in Grenzen (2x Pistons, OKC, Pelicans). Nun aber geht es nach Heimspielen gegen die Bucks und Raptors auf einen sechs Partien umfassenden Roadtrip an die Westküste, unter anderem mit Begegnungen bei den Jazz, Nuggets, Blazers und Warriors. Danach herrscht etwas mehr Klarheit darüber, ob die Sixers ohne Simmons zu den Topteams gehören - auch dann, wenn die ganz wichtigen Spiele anstehen.
Das erste Zwischenfazit ist jedoch äußerst vielversprechend, wie auch Rivers findet: "Wenn ich eine Sache bei diesem Team hervorheben muss - und es ist noch früh -, dann ist es der Zusammenhalt. Es ist eine Gruppe, die sich nahesteht und der ganze Kram drumherum hat das noch einmal verstärkt." Zumindest diese Qualität scheint neu zu sein bei den Sixers.