Ein Carmelo Anthony als Sixth Man? 2017 musste Melo über diesen Gedanken herzlich lachen, als ihm ein Reporter dieses mögliche Szenario bei den Oklahoma City Thunder aufmalte. "Hey P, sie sagen, dass ich von der Bank kommen soll", rief Anthony bei seiner Vorstellungs-PK in Richtung Paul George und konnte nur mit dem Kopf schütteln.
Das Experiment mit Russell Westbrook und eben jenem George ging damals kräftig in die Hose und auch nach dem Erstrundenaus gegen die Utah Jazz um den damaligen Rookie Donovan Mitchell zeigte sich Anthony wenig einsichtig. "Ich werde mich nicht opfern und ein Bankspieler sein", stellte der Forward klar.
Drei Jahre später sind die Voraussetzungen anders. Auf ein glückloses Gastspiel in Houston folgte fast ein ganzes Jahr Arbeitslosigkeit, bevor die Portland Trail Blazers eher aus Verzweiflung wegen zahlreicher Verletzungen bei Anthony anklopften und diesen aufnahmen.
Carmelo Anthony: Portland als letzte Ausfahrt
Und Anthony machte trotz inzwischen fortgeschrittenen Alters seine Sache gut. Sein Scoring war nicht mehr so elitär wie früher, die Athletik hatte sichtbar nachgelassen - und doch war Anthony ein brauchbarer NBA-Spieler. 15,4 Punkte bei 38,5 Prozent aus der Distanz waren gute Werte, die ihm viele nicht mehr so zugetraut hatten.
Das war jedoch die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite hatte auch Anthony seinen Anteil daran, dass Portland die mit Abstand schlechteste Defense aller Playoff-Teams stellte. Vor allem die Playoff-Serie gegen die Los Angeles Lakers um LeBron James deckte Melos Anfälligkeit schonungslos auf.
Für das Minimum lieferte er trotzdem einen guten Gegenwert und so unterschrieb Melo, der über seine Karriere rund 260 Millionen Dollar scheffelte, in der Offseason erneut in Portland, wieder für das Minimum von 2,6 Millionen. Wohl wissend, dass die Blazers das einzige Team waren, welches Anthony das Vertrauen schenkte. In dieser Spielzeit dürfte aber vieles anders werden. Portland hat große Ambitionen, mit Robert Covington und Derrick Jones Jr. kam Verstärkung für den Flügel, was Anthony in die ungewohnte Bankrolle katapultiert.
Von seinen 1122 NBA-Spielen startete der zehnfache All-Star in 1114, viele weitere Starts werden nun nicht mehr hinzukommen, wie schon die ersten Preseason-Spiele andeuteten, als Anthony tatsächlich die einst so verschmähte Rolle des sechsten Mannes einnahm. "Das Gefühl ist ein bisschen anders, aber wenn man sich daran gewöhnt hat, ist es immer noch Basketball", sagte der 36-Jährige nach dem 127:102-Sieg gegen Sacramento, als er mit 21 Punkten (8/13 FG) in 23 Minuten Topscorer war.
Carmelo Anthony neuer Sixth Man der Blazers
"Es ist das Beste für das Team", fügte Melo an, was auch Coach Terry Stotts ähnlich sieht: "Es ist schön, dass wir einen solch offensiv talentierten Spieler von der Bank bringen können." Die Maßnahme ist durchaus sinnvoll. In der vergangenen Saison war Anthony als Spot-Up-Schütze zwar effizient (fast 1,2 Punkte pro Play), doch der Routinier hat am Ende des Tages den Ball am liebsten selbst in der Hand.
Mit Damian Lillard und C.J. McCollum besitzt Portland aber zwei Spieler, die nun dynamischer und besser mit dem Ball sind. Stattdessen soll Anthony die Offense am Leben halten, wenn einer oder gar beide eine Pause erhalten.
Es nimmt den Oldie auch ein wenig aus der Schusslinie. Melo dürfte gegen andere Reservisten besser aussehen, auch seine defensiven Limitationen dürften so ein wenig versteckt werden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass er am Ende eines Spiels auf dem Platz steht, den Killer-Instinkt besitzt er weiter. Er bietet den Blazers eine weitere Scoring-Option in engen Spielen, was ein echter Luxus ist.
Carmelo Anthony: Es geht um Respekt
Rolle hin, Rolle her. Anthony hat in Portland für den Moment seinen Hafen gefunden. Nicht wenige zweifelten vor einem Jahr noch daran, ob der Forward jemals noch ein Spiel in der NBA absolvieren würde. Um seinen Traum weiter zu leben, muss Melo Abstriche machen, das hat er akzeptiert. "Ich musste diese Pille schlucken. Hier sind alle ehrlich mit der Situation umgegangen, auch Dame und C.J. Wir hatten mehrere lange Unterhaltungen und sie waren der Grund, warum ich hier noch einmal unterschrieben habe."
Immer wieder ging das Wort Respekt über Melos Lippen. Er hat nicht vergessen, was die Leute in den vergangenen Jahren über ihn sagten, schrieben oder vielleicht auch nur dachten. Der Respekt in Portland ist ihm sicher - vom Coach, von GM Neil Olshey oder auch von den beiden Franchise-Stars. Daran ändert sich auch nichts, wenn er in seiner 18. NBA-Saison "nur" von der Bank kommt. Und wer weiß: Vielleicht kann Melo ja sogar im Rennen um den besten Bankspieler ein Wörtchen mitreden.