Wenn man in den ersten Wochen der neuen NBA-Saison am Morgen die Boxscores der Nacht checkt, kann sich man bisweilen schon ziemlich einfach am Kaffee verschlucken. Hier scoren die Pelicans 149 Punkte, da sind es 132 von Defensiv-Bollwerk Utah, die Hornets legen 135 auf und die Spurs und Lakers liefern sich, wenn auch nach Overtime, eine 143:142-Schlacht.
Es scheint, als gäbe es jeden Tag mindestens einen Score, der noch vor zehn Jahren für den Monatsbestwert gereicht hätte - dabei ist die Saison kaum zwei Wochen alt. Und dieser Schein trügt nicht: Natürlich befinden wir uns noch am Anfang der Saison und die Stichprobe ist entsprechend gering, einiges wird sich noch normalisieren.
Aktuell gibt es dennoch vier Teams, die über 120 Punkte pro Spiel auflegen - das letzte Team, das dies über eine Saison schaffte, waren die 84/85er Nuggets, die unter Head Coach Doug Moe als Urheber modernen Run&Gun-Basketballs gelten. Diese hatten drei Jahre zuvor den All-Time-Rekord aufgestellt (126,5); bevor Anthony Davis bei den Pelicans ein Spiel verpasste, lagen diese drüber.
Es ist auch nicht so, dass einfach ein paar Teams wie wild ballern und die Liga ansonsten "normal" ist. Die durchschnittlich erzielten Punkte pro Spiel waren seit der 70/71er Saison nicht mehr so hoch wie aktuell, es werden im Schnitt 112,1 Punkte pro Team erzielt. Das sind beinahe 6 Punkte mehr als in der letzten Saison, in der schon mehr als ordentlich gepunktet wurde.
Nun fragt man sich einerseits, woher diese Explosion kommt, und andererseits, wie nachhaltig sie ist, ob der Anstieg beim Scoring also lange Bestand hat. Die Faktoren, die eine wesentliche Rolle dabei spielen, geben bereits ein ziemlich unterschiedliches Bild ab. Ein Überblick ...
Houstons Modell macht Schule
Es hat sich ja rumgesprochen, dass die Rockets und ihr General Manager Daryl Morey ein Wurfprofil bestehend aus Freiwürfen, Layups und Dreiern, am liebsten aus der Ecke, favorisieren. Die Mitteldistanz ist zumindest für Rollenspieler Tabu, Dreier, Layups und Freiwürfe bringen mehr Punkte pro Ballbesitz. Das ist nicht mehr neu, neu ist jedoch, dass mittlerweile fast die gesamte Liga diese Philosophie verinnerlicht hat.
Vergangene Saison war Houston mit 42,3 Dreiern pro Spiel noch einsame Spitze, die zweitplatzierten Nets waren mit 35,7 Versuchen weit weg - derzeit werfen Houston, Dallas, Atlanta und Milwaukee über 38 Dreier, der Liga-Durchschnitt liegt bei 31,6 versuchten Triples pro Team (letzte Saison: 29). Zur Einordnung: Die Warriors, die traditionell ja sowieso nur werfen können, liegen mittlerweile unter dem Durchschnitt (30).
Mehr denn je hat sich die Liga in diesen Wurf verliebt und auch die durchschnittlichen Freiwürfe sind wieder angestiegen, wenn auch nicht dramatisch (von knapp 22 auf 24). Die Midrange hingegen meiden Teams zunehmend - wobei gerade die Spurs offensiv mit ihrem Oldschool-Basketball noch gut fahren. Teams wie OKC oder auch Boston hingegen litten vorne bisher unter fehlendem Spacing.
Natürlich macht Talent immer noch den allergrößten Unterschied. Aber es ist offensichtlich, dass Moreys Modell mathematisch funktioniert und auch Teams, die keinen Curry oder Durant haben, eine größere Siegchance verschafft.
Die Hawks etwa haben primär deshalb zwei Siege auf dem Konto, weil sie Dreier schießen und schnell spielen wie kaum ein zweites Team - fehlendes Talent lässt sich so zumindest teilweise ausgleichen.
Das Tempo zieht an
Apropos schnell spielen. Während Atlanta die Liga mit einer Pace von 107,1 anführt (auch das wäre der höchste Wert seit den 80ern), ist die restliche Liga nicht weit dahinter: Der Durchschnittswert, der berechnet, wie viele Ballbesitze Teams pro 48 Minuten haben, liegt derzeit bei 101,5 und damit auf seinem höchsten Wert seit 1985/86. Noch vergangene Saison war der Durchschnitt mit 97,3 deutlich geringer.
Auch hierfür gibt es mehrere Gründe. Einerseits den spielerischen: Jeder Basketballer weiß, dass Fastbreaks einerseits Spaß machen und andererseits gerade in Überzahlsituationen öfter zum Erfolg führen als Halbfeld-Offense. Gegen unsortierte Defense finden sich viel leichter offene Würfe und das Feld ist noch breiter.
Als Beispiel kann man hier gut die Lakers anführen. LeBron lief in Cleveland oft nur dann Fastbreaks, wenn er Pässe abfing und Eins-gegen-Null zum Dunk sprinten konnte. Die Lakers hingegen pushen den Ball auch nach kassierten Punkten - in dieser Hinsicht hilft es ihnen, dass sie so viele Playmaker haben.
Oft wird der Ball gar nicht vorgedribbelt, sondern über mehrere Stationen (etwa Lonzo, LeBron und Hart) nach vorne gepasst, um dort sofort Abschlüsse zu erzwingen. Damit fahren die Lakers wesentlich besser als im Halfcourt, wo ihre Shooting-Probleme viel stärker ins Gewicht fallen.
Je schneller, desto besser. Wer sich noch an die revolutionären "7 Seconds Or Less"-Suns erinnert - deren höchster Pace-Faktor (96,7 in der 07/08er Saison) überhaupt wäre heute nicht nur ein langsamer, sondern der langsamste Wert der Liga! Sogar die Pacers, Spurs und Grizzlies verzeichnen mehr Ballbesitze als Steve Nash und Co. vor gut zehn Jahren. Wie sich die Zeiten doch ändern.
Natürlich hat das nicht nur spielphilosophische Gründe. Auch die NBA hat ihren Einfluss mit einigen Regeländerungen beziehungsweise neuen Richtlinien für die Schiedsrichter, die vor der Saison beschlossen wurden.
Neue Regeln, neue Herausforderungen
Die NBA hat zum einen beschlossen, dass nach Offensiv-Rebounds die Uhr ab dieser Saison nur auf 14 Sekunden, nicht wie früher auf 24 Sekunden zurückgesetzt wird. Das wurde zuvor bereits in G-League und WNBA getestet und mag auf den ersten Blick nicht wie viel wirken, hat aber kumuliert durchaus Einfluss.
Offensiv-Rebounds sind zwar abseits von OKC ziemlich außer Mode gekommen, machen aber doch immer noch über 20 Possessions pro Spiel aus, die nun schneller zu Ende gespielt werden müssen. Gerade am Ende von Spielen tut es dem Tempo gut, dass Spieler nicht mehr 15 Sekunden lang mit dem Ball drei Meter hinter der Dreierlinie stehen und abwarten dürfen, bevor sie eine Aktion starten.
Etwas gemischter sind die bisherigen Resultate bei den "Points of Education", die die Schiedsrichter wie jedes Jahr vom Liga-Büro mit auf den Weg bekommen haben. Es sollte zum Saisonstart beispielsweise genauer darauf geachtet werden, dass der Bewegungsspielraum von Spielern abseits des Balles nicht eingeschränkt wird, was an sich ja eine gute Sache ist - allerdings stimmt das Maß oft noch nicht.
Man kennt das Phänomen bereits, dass die Referees zu Saisonbeginn eine sehr kleinliche Linie pfeifen und gerade die Points of Education etwas übereifrig befolgen. Einige Spiele wirken dadurch etwas verpfiffen, es kommt derzeit zu häufig vor, dass Teams schon nach drei Minuten eines Viertels in Foul-Trouble sind.
Auch dadurch wechselt der Ballbesitz schneller hin und her und es entstehen mehr Possessions, allerdings in dem Fall auch mehr Real-Spielzeit, was eigentlich vermieden werden sollte. Hier werden sich wohl sowohl die Schiedsrichter als auch die Spieler noch etwas besser mit den neuen Richtlinien arrangieren.
Wie geht es weiter?
Ein Stück weit dürften sich die Zahlen im Lauf der nächsten Wochen normalisieren. Einen Anstieg beim Scoring gab es seit 2011/12 immer, aber nie so massiv von einer Saison zur nächsten wie aktuell. Tief fallen werden die Zahlen aber kaum. Es ist kein Geheimnis, dass die modernen Regeln die Defense nicht gerade übervorteilen, und in diese Richtung wird es vorerst auch weiter gehen.
Hohe Scores, hohes Tempo und viele Dreier sind spektakulär und damit sehr im Sinn der NBA, gerade in der langen Regular Season (in den Playoffs wird die Gleichung ohnehin eine andere). Die Teams werden diesen Stil ausreizen, bis es nichts mehr auszureizen gibt oder irgendein Pionier die Konterrevolution einleitet. Wie diese aussehen wird, ist derzeit noch nicht abzusehen (auch wenn die Kings schon morgen eine Starting Five aus Big Men aufbieten könnten - wieso nicht?).
Zumal der Punkt noch nicht erreicht ist. Dafür ist einfach noch zu viel unausgeschöpftes Potenzial vorhanden, wenn man seine Offense an den modernen Spielstil anpasst, Shooter in den Ecken platziert und ihnen grünes Licht gibt. Brook Lopez und Ersan Ilyasova sind nicht die einzigen Gründe, warum die Bucks in dieser Saison wie ausgewechselt auftreten - aber sie stehen sinnbildlich für die neue Realität.