Vor der vergangenen Saison fragten sich die Fans in Chicago: "Wenn nicht jetzt, wann dann?" Und sie fragten zu Recht. Endlich sollte Derrick Rose wieder zu alter Stärke zurückfinden und die Bulls zusammen mit dem aufstrebenden Jimmy Butler zum Titel führen. Es kam bekanntlich anders.
Rose riss sich erneut den Meniskus im rechten Knie und musste insgesamt 30 Spiele zusehen. Auch Butler, Mike Dunleavy, Joakim Noah, Taj Gibson und Kirk Hinrich verpassten jeweils mindestens 15 Partien. Die Mannschaft ist einfach alt. Sie ächzt wie ein altes Schlachtschiff, das seine besten Tage hinter sich hat.
Im Schlussspurt der vergangenen Saison sicherte sich Chicago dennoch den dritten Platz in der Eastern Conference (50-32). Schon im Erstrunden-Matchup gegen die Milwaukee Bucks wurde die fehlende Konstanz beinahe zum Verhängnis, gegen die Cleveland Cavaliers war in den Conference Semifinals Endstation. Trotz des Ausfalls von Kevin Love, eines humpelnden Kyrie Irving und der Rückkehr von Rose.
Es ist kein Fehler in der Matrix, aber dennoch ein Deja-vu. Zum fünften Mal in Serie hatte Tom Thibodeau eine durchaus schlagkräftige Crew beisammen - zum fünften Mal schlug man in der Postseason Leck und musste dem Logbuch eine weitere Enttäuschung hinzufügen. Die Zeit für einen neuen Kurs war gekommen.
Ein Rookie am Steuer
Die Veränderung fand an der Seitenlinie statt. Nachdem Tom Thibodeau während der Saison schon angezählt worden war, musste er Ende Mai seine Halspastillen nehmen und seinen Platz räumen. Mit Fred Hoiberg entschieden sich die Verantwortlichen für einen College-Coach. Anscheinend hat Brad Stevens' Erfolg bei den Boston Celtics, der wie Hoiberg eine stoische Ruhe ausstrahlt, abgefärbt. Das alte Trainerkarussell - basierend auf dem ständigen Widerkäuen der alten Verdächtigen - ist längst aufgebrochen.
"Wir haben mit Fred einen Coach verpflichtet, der ein unglaubliches Paket an Skills mitbringt", sagte Chicagos General Manager Gar Forman: "Er ist ein Gewinner-Typ, ein geborener Anführer und ein großartiger Kommunikator." Die ersten beiden Eigenschaften wurden Thibodeau zuletzt immer häufiger abgesprochen, die dritte besaß er wohl nie.Offense > Defense
Aber es gibt noch einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Coaches. Glänzte Chicago in besten Thibs-Zeiten mit Lockdown-Defense um Ex-DPoY Noah, so wird mit Hoiberg frischer Wind in Chicago Einzug erhalten. Das Steckenpferd des ehemaligen Shooting Guards: die Offense.
Bei Iowa State ließ Hoiberg eine enorm schnelle Pace spielen, seine Cyclones waren stets unter den offensiv besten Teams des Landes. Zudem feuerten sie mit die meisten Dreier aller College-Teams ab. Satte 40 Prozent der Würfe nahm Iowa State in seiner Zeit von Downtown - Analytics lassen grüßen. Ebenfalls interessant: The Major, wie Hoiberg genannt wird, hat eine Schwäche für Guard-Postups. Derrick Rose gefällt das.
Hoiberg spielte bereits in seiner aktiven Zeit vier Jahre für die Bulls (1999-2003), bevor es ihn nach dem Karriereende und einem Engagement im Front Office der Minnesota Timberwolves an seine eigene Uni zurückzog. Vier Mal in Serie führte er Iowa State ins NCAA-Tournament und wurde 2012 zum Big 12 Coach of the Year gewählt. Schon länger galt er als Kandidat für einen Job in der NBA.
Butler ist gefordert
Eines der größten Projekte für Hoiberg wird die Weiterentwicklung von Jimmy Buckets sein. Der Swingman unterschrieb nach kleinen Pokerspielchen letztlich wie erwartet einen Maximalvertrag. Nach dem Breakout-Jahr ist er auch offiziell der neue Go-to-Guy der Bulls, doch unter Hoiberg muss er sich als echter Franchise-Player etablieren.
Nur wenige Fans hatten geglaubt, dass Mike Dunleavy Jr. an Bord bleibt. Das nötige Kleingeld für den Veteranen sei nach dem Butler-Deal nicht mehr da, hieß es. Doch Mr. Cut and Shoot unterschireb für moderate 14,5 Mio. Dollar und spielt dafür auch die nächsten drei Jahre in der Windy City.
Mit drei Big Men der klassischen - und aussterbenden - Generation, die keine (Noah, Gibson) bzw. kaum (Gasol) Dreier werfen, bringt Dunleavy wichtige Gefahr von Downtown und damit Spacing. Ein nicht zu unterschätzender Wert für die Bulls.
Jugend für den Frontcourt
Bobby Portis (Draftpick Nr. 22) wird in seiner ersten Saison keine Bäume ausreißen, auch wenn er unter Hoiberg mehr Chancen auf Minuten hat als bei Thibs. Zum Star fehlt ihm vermutlich das Potenzial, dafür ist er - wie in der Summer League gesehen - bereits ein recht kompletter Spieler. Bei Gasols 35 Lenzen und den Krankenakten von Noah und Gibson, die inzwischen dicker sind als der Strafenkatalog von J.R Smith, keine schlechte Sache.
Apropos Noah. Ist er überhaupt noch tragbar? Nach wie vor ist der Franzose einer der besten großen Defender, doch offensiv strahlte er in den Playoffs weniger Gefahr aus als ein Eichhörnchen, das gerade eine Nuss verspeist. Dass sich Vier gegen Fünf schlecht spielt, mussten die Bulls gegen Cleveland bitter erfahren.
Macht Mirotic den nächsten Schritt?
Zum Glück für Chicago gab es in Nikola Mirotic, der sowohl auf der Drei als auch auf der Vier agierte, einen Lichtblick. Zumindest offensiv. Der Rookie überraschte mit eine kurzen Eingewöhnungsphase und könnte kommende Saison sein Breakout-Year feiern. Auch von Tony Snell und Doug McDermott dürfen Steigerungen erwartet werden.
Auf den Guard-Positionen müssen sich die Bulls-Fans ebenfalls keine neue Namen einprägen. Hinrich zog seine Spieleroption, Point Guard Aron Brooks bekam einen neuen Einjahresvertrag. Doch diese Entscheidung war nicht unstrittig. Ein defensiv stärkerer Backup hätte der Second Unit sicher gut zu Gesicht gestanden.
In der Free Agency hielt sich Chicago zurück, holte lediglich Big Man Cristiano Felicio aus Brasilien und stattete ihn mit einem teilweise garantierten Vertrag aus. Das war's. Nicht gerade ein Monster-Move.
Stagnation plus X
Mit Ausnahme von Nazr Mohammed, der vermutlich seine Karriere beenden wird, konnten die Bulls alle Spieler halten. Die Hausaufgaben wurden zwar gemacht, verbessert hat sich das Team dadurch aber nicht. Die Verantwortlichen setzen auf den neuen Stil von Hoiberg und Associate Head Coach Jim Boylen, auf die Entwicklung von Butler und Mirotic sowie ein wenig auf das D-Rose-Wunder. Ja, immer noch.
Aber es gibt derzeit - auch aufgrund der Payroll an der Grenze des Salary Cap - kaum sinnvolle Alternativen, den Kader umzustrukturieren. Nächsten Sommer können die Bulls Noahs Vertrag aus den Büchern streichen - sollte er bis dahin nicht getradet werden. Durch den erneuten Anstieg der Gehaltsobergrenze reicht das mindestens für einen neuen Max-Deal. Zwei weitere dicke Verträge kann Chicago 2017 anbieten, wenn Roses Kontrakt ausläuft.
Bis zu diesem großen Umbruch soll die alte Crew mit ihrem neuen Kapitän noch durchhalten. Es müsste kommende Saison vieles maximal gut laufen, sollte der Kurs des einstigen Flaggschiffs der Liga in Richtung Finals führen. Nur eines ist sicher: Die Bulls-Offseason wird 2016 höhere Wellen schlagen als dieses Jahr.