Disfrutar del juego

Von Sebastian Hahn
Mauricio Pochettino (l.) steht mit Tottenham auf dem zweiten Tabellenplatz
© getty

Im Schatten der Sensations-Mannschaft Leicester City spielen die Tottenham Hotspur eine nahezu perfekte Saison. Mauricio Pochettino hat im Norden Londons in nicht mal zwei Jahren einen Titelanwärter geformt, der sogar die englische Nationalmannschaft wieder aufblühen lässt. Dabei ist das Mantra des Argentiniers doch denkbar einfach.

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"Disfrutar del juego" - mit exakt diesen drei Worten beendet Mauricio Pochettino das Interview vor seinem Premier-League-Debüt. Der Argentinier ist erst seit wenigen Tagen Trainer vom FC Southampton, in gebrochenem Englisch erklärt er vor Spielbeginn seine Aufstellung und die Ziele für das anstehende Match gegen den FC Everton.

Für seinen letzten Satz greift er dann dann aber doch auf seine Muttersprache zurück. "Disfrutar del juego" - genieße das Spiel. Drei Wörter, nicht ganz so legendär und pathetisch wie Giovanni Trappatonis "Ich habe fertig". Aber auch drei Wörter, die den englischen Fußball auf genau das vorbereiten soll, was "Poche" in den nächsten Jahren mit der Premier League vorhat.

Im Schatten von Adkins

Genießen kann Pochettino zunächst aber nicht viel, im St. Mary's sind die Anhänger der Saints immer noch wütend auf die Klubführung, die Publikumsliebling Nigel Adkins nach drei Jahren von seinem Posten als Cheftrainer entbunden hatte. Adkins hatte die Saints aus der drittklassigen League One bis in die Premier League geführt.

Die wütenden Anhänger wirbelten demonstrativ weiße Taschentücher durch die Luft, in der 56. Spielminute wird die Partie sogar zu Adkins Ehren unterbrochen, "One Nigel Adkins..." schallt es von den Rängen. Diese Szenen zeigen: Pochettino hat zu Beginn in Southampton einen schweren Stand, das Vertrauen in den Argentinier ist nahezu nicht existent. Zumal sich seine Erfolgsbilanz auch in Grenzen hält.

Göttliche Fügung bei Espanyol

Pochettino kennt sich allerdings mit schwierigen Situationen aus. 2009 übernahm er überraschenderweise den Trainerposten bei Espanyol Barcelona. Der Argentinier verbrachte als Aktiver insgesamt neun Saisons bei den Katalanen, 2000 und 2006 gewann er mit Espanyol die Copa del Rey. Trotzdem war Pochettino zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 36 Jahre alt und hat keinerlei Coaching-Erfahrung vorzuweisen. Espanyol stand zudem auf dem 18. Tabellenplatz und hatte nach der Hinrunde nur 15 Punkte auf dem Konto - ideale Voraussetzungen sehen anders aus.

Und auch der Start verlief wenig verheißungsvoll: In den ersten neun Spielen holte Pochettino nur sieben Punkte, die Periquitos waren Tabellenletzer und acht Punkte vom Klassenerhalt entfernt. Bevor es aber in die letzten zehn Spiele ging, hatte Pochettino eine ungewöhnliche Idee: Der Argentinier pilgerte zum Kloster Montserrat vor den Toren von Barcelona und bat um göttlichen Beistand - fortan spielte Espanyol wie verwandelt. Aus den letzten zehn Spielen holten die Katalanen acht Siege, darunter den ersten Derby-Erfolg im Camp Nou gegen den FC Barcelona seit 1982. Statt um den Abstieg zu spielen, schob sich die Pochettino-Elf noch auf den zehnten Platz - in der Rückrundentabelle schaffte man es sogar auf Platz fünf.

Karriere-Sprungbett für Youngster

Pochettino verlängerte seinen Vertrag in der Folge um drei Jahre bis 2013, unter seiner Aufsicht entwickelte sich unter anderem Jose Callejon zum Leistungsträger, Stürmer Daniel Osvaldo gelangen in der Saison 2010/11 13 Tore in 24 Spielen, der Italiener wechselte nach Saisonende für 16 Millionen Euro zum AS Rom. Auch Callejon ging nach drei Jahren wieder zurück zu Real Madrid, der achte Platz in Pochettinos zweiter Saison sollte das beste Ergebnis von "Poche" bleiben.

Denn die Transfers von Callejon und Osvaldo verdeutlichten: Pochettino bildete seine Talente zwar exzellent aus, die Vereinsführung legte aber nicht nach. Der Argentinier musste also vor jeder Spielzeit sein Team am Reißbrett neu konstruieren, im November 2012 einigten sich beide Seiten nach einem schwachen Saisonstart schließlich auf eine Vertragsauflösung.

Dennoch hat sich der Argentinier vor allem auf der iberischen Halbinsel einen Namen gemacht, immer wieder wird er mit Real Madrid in Verbindung gebracht. Pochettino verfolgt aber andere Ziele, nach einem eindringlichen Gespräch mit Jose Mourinho steht fest: Es geht auf die Insel. Schon Wochen vor der Entlassung von Adkins studiert Pochettino die Saints genau, bei Amtsantritt bringt er bereits einen klaren Plan an die Südküste Englands mit. Der Klassenerhalt ist folglich kein Problem mehr, der Argentinier beendet seine erste Halbserie in der Premier League als Tabellenvierzehnter.

Southamptons Geldmaschine

Doch erst am Ende der Sommerpause wird deutlich, was für ein Glücksgriff der mittlerweile 41-Jährige für die Saints ist. Sein Mantra "Disfrutar del juego" setzt er konsequent um, Ballbesitz, hohes Gegenpressing und eine starke Abwehr werden zu Eckpfeilern seiner Spielweise. Elemente, mit denen er die Fans bereits bei Espanyol begeistern kann.

Mit Luke Shaw, Calum Chambers und Nathaniel Clyne bindet er drei Eigengewächse in die eigene Viererkette ein, Neuzugang Dejan Lovren blüht in der Innenverteidigung ebenfalls auf. Auf der Sechs agiert ein gewisser Morgan Schneiderlin, im Kreativzentrum verzückt Adam Lallana die Insel, Jay Rodriguez wird zum Nationalspieler. Im Sturm bleibt Veteran Rickie Lambert eiskalt.

Southampton spielt seine beste Premier-League-Saison aller Zeiten, 56 Punkte und Platz 8 sind weit mehr als das, was die Saints für möglich gehalten hatten. Bemerkenswert: Fast ein Jahr nach seiner Verpflichtung redet Pochettino bei Pressekonferenzen ausschließlich Spanisch, an der Seitenlinie leitet Fitness-Coach Nick Harvey die Anweisungen seines Chefs weiter. "Poches" trockener Kommentar: "Ich will, dass meine Aussagen nicht missverstanden werden. Stellt mir einfache Fragen, dann antworte ich auch auf Englisch."

Im Sommer folgt für Pochettino dann allerdings der alljährliche Aderlass: Shaw, Lallana, Lovren und Chambers gehen für knapp 114 Millionen Euro über die Ladentheke, im folgenden Sommer bringen Schneiderlin und Clyne nochmal etwas mehr als 52 Millionen ein. Davon hat Pochettino aber nichts: Der Argentinier übernimmt nach nur einer vollen Saison in Southampton die Tottenham Hotspur und soll den Schrotthaufen, den Tim Sherwood in Co-Produktion mit Andre Villas-Boas im Norden Londons hinterlassen hat, wieder auf Kurs bringen.

Bewährungsprobe an der White Hart Lane

Auch an der White Hart Lane setzt Pocchetino sofort seine Stärken um. Statt ausschließlich auf teure Einkäufe zu setzen, schaut sich der Argentinier zunächst das vorhandene Personal an. Nach den Projekten Callejon, Shaw, Chambers, Lallana und Co. entdeckt der 44-Jährige auch Harry Kane - ein bis dato belangloser Ersatzstürmer bei den Spurs. Der heute 22-Jährige wird mit 21 Toren Zweiter der Torschützenliste, in der Saison 2015/2016 liegt er schon bei 24 Treffern und hat gute Chancen auf die Torjägerkanone.

Auch andere Spieler profitieren vom neuen Coach, der sein Team im Laufe der Saison 2014/15 immer mehr nach seinen Wünschen umbaut. Die Youngster Dele Alli, Danny Rose und Kyle Walker bekommen immer mehr Spielanteile, auch Christian Eriksen und Erik Lamela blühen wieder auf. Der Umbruch verläuft allerdings nicht reibungslos, 64 Punkte reichen zunächst nur für Platz fünf und die Qualifikation für die Europa League. Für Pochettino ein Opfer, das er gerne in Kauf nimmt. Denn 2015/16 sollen die Spurs durchstarten.

"The Invincibles" und "Sir Alex"

Für die Innenverteidigung wird Toby Alderweireld verpflichtet, gemeinsam mit Landsmann Jan Vertonghen ist er Teil des wohl beste Innenverteidiger-Duos der Liga, das bis dato nur 25 Tore kassiert hat - Platz 1 in der Liga. Gemeinsam mit den pfeilschnellen Rose und Walker bilden sie das Fundament für das Offensivspiel Pochettinos. Sie ist die solide Verteidigung, auf der das Spiel des Argentiniers fußt.

Im Mittelfeld nimmt der 44-Jährige zudem zwei entscheidende Änderungen vor: Eric Dier spielt fortan nicht mehr Innenverteidiger, sondern verrichtet auf der Doppel-Sechs seine Arbeit. Dele Alli blüht erst so richtig auf, seitdem er nicht mehr im Offensivzentrum sondern auf der linken Seite spielen darf. Komplettiert wird die offensive Dreierkette von Lamela und Eriksen, die beide vor Kreativität und Schnelligkeit nur so strotzen. Mousa Dembele komplettiert das Mittelfeld, der Belgier agiert defensiv souverän, initiiert mit seinen Dribblings und Pässen aber zugleich auch die Offensive.

All das kreiert ein schnelles Umschaltspiel, das bisher 64 Tore produziert hat - ebenfalls Platz 1 in dieser Saison. Oft sind es Alderweireld und Vertonghen, die mit ihren Pässen das Spiel eröffnen. Dembele und Dier leiten den Ball dann schnell nach vorne weiter, wo Alli, Eriksen und Lamela auf den Außenbahnen von Rose und Walker unterstützt werden. Das fünfköpfige Monster wird noch durch Harry Kane ergänzt - ein Albtraum für nahezu jede Premier-League-Defense.

Pochettinos Spielweise ähnelt dabei nicht nur der von Jürgen Klopp, der beim FC Liverpool einen ähnlichen Stil pflegt, auch das dominante Spiel des FC Arsenal Anfang der 2000er oder das von Manchester United unter Sir Alex Ferguson einige Jahre später war auf schnelles Umschalten und Tempofußball ausgelegt.

Englisches Team = englische Spieler

Dass dabei alleine fünf Stammspieler aus England stammen, ist ungewöhnlich - aber eben auch von Pochettino durchdacht: "Ich trainiere eine englische Mannschaft, also brauche ich auch englische Spieler. Ihre Mentalität ist wichtig für unser Team, Neuzugänge aus anderen Ländern müssen sich genau wie ich anpassen. Wenn ich als Argentinier nur argentinische Spieler verpflichte, geht das auf Dauer nicht gut."

Der französische Keeper Hugo Lloris gibt Pochettino sogar als ausschlaggebend für seinen Verbleib an der White Hart Lane an: "Bevor er hierher kam, wollte ich den Verein eigentlich verlassen. Als wir uns dann das erste Mal getroffen haben, habe ich ihm von der ersten Sekunde an vertraut."

Der Spurs-Torhüter ist mit 29 Jahren übrigens der älteste Spieler in der Startaufstellung der Coys, Tabellenführer Leicester ist im Schnitt drei Jahre älter. Falls Tottenham in diesem Jahr also nicht mehr der Sprung an die Tabellenspitze und damit der erste Titel seit 1991 gelingt - die Spurs sind für die kommenden Jahre dennoch gut aufgestellt.

Und falls Spieler wie Kane, der angeblich das Interesse von Real Madrid geweckt hat, im Sommer den Klub verlassen sollten, ist auf Pochettino Verlass. Denn der Argentinier wird schon irgendwo einen weiteren verheißungsvollen Youngster herauskramen. Egal, wie die Mannschaft in der kommenden Saison aussehen wird, bei ihrer zweiten Champions-League-Teilnahme wird sie auf jeden Fall ansehnlichen Fußball bieten. Dafür wird Mauricio Pochettino sorgen. Denn "Disfrutar del juego" ist mehr als nur ein einfaches Mantra.

Mauricio Pochettino im Steckbrief

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