Ein Olympia-Ausschluss für alle Russen rückt nach neuen erschreckenden Enthüllungen über jahrelanges Staatsdoping im größten Land der Welt immer näher. Der mit Spannung erwartete McLaren-Report hat 18 Tage vor Beginn der Sommerspiele in Rio de Janeiro einen der größten Skandale der Sportgeschichte offenbart und den Weltsport erschüttert.
Dem Bericht zufolge hat das russische Sportministerium weitreichende Manipulationen auch während der Winterspiele in Sotschi 2014 "gelenkt, kontrolliert und überwacht". Die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA forderte umgehend das Rio-Aus für Russland.
Auch IOC-Präsident Thomas Bach reagierte schockiert, traf aber noch keine Maßnahmen. "Die Ergebnisse des Berichts zeigen einen erschreckenden und beispiellosen Angriff auf die Integrität des Sports und der Olympischen Spiele", wurde Bach in einer Stellungnahme zitiert: "Daher wird das IOC nicht zögern, die härtesten Sanktionen gegen jede beteiligte Person oder Organisation zu treffen."
WADA prescht vor
Das Exekutiv-Komitee des IOC wolle in einer Telefonkonferenz am Dienstag erste Entscheidungen treffen, die auch "vorläufige Sanktionen mit Blick auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio" beinhalten könnten.
Die oberste Anti-Doping-Behörde preschte bereits vor. "Die WADA ruft den internationalen Sport auf, auf russische Athleten bei internationalen Wettkämpfen inklusive der Olympischen Spiele in Rio zu verzichten, bis ein Kulturwandel vollzogen wurde", twitterte WADA-Sprecher Ben Nichols.
Derlei Empfehlungen gab der Report ausdrücklich nicht - dennoch setzt er das Internationale Olympische Komitee (IOC) und Bach maximal unter Zugzwang. Die Erkenntnisse Richard McLarens, der am Montagmorgen Ortszeit im Sheraton Centre Hotel in Toronto seinen Bericht vorstellte, sind unmissverständlich. Demnach sind auch nicht nur die Sotschi-Spiele und Wintersportler betroffen: "Russische Athleten aus den meisten Sommer- und Wintersportarten" hätten von der Manipulationsmethode, die von "mindestens Ende 2011 bis August 2015" geplant und durchgeführt worden sei, profitiert.
Das russische Sportministerium habe die Manipulation, bei der vor allem Dopingproben ausgetauscht wurden, mit Hilfe des Geheimdienstes FSB "gelenkt, kontrolliert und überwacht", hieß es in dem Report. McLaren bestätigte damit Aussagen des russischen Kronzeugen Gregori Rodtschenkow. Mehrere Dutzend russische Sportler, darunter mindestens 15 Medaillengewinner, sollen in Sotschi gedopt an den Start gegangen sein. "Ich bin sehr überzeugt von unseren Ergebnissen. Wir haben viele Beweise, die keine Zweifel zulassen", sagte McLaren.
NADA: Russland muss ausgeschlossen werden
Die Nationale Anti Doping Agentur (NADA) ließ sich nicht lange bitten. "Die NADA fordert das Internationale Olympische Komitee auf, dafür zu sorgen, dass russische Sportlerinnen und Sportler nicht zu den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zugelassen werden", sagte NADA-Vorstandsvorsitzende Andrea Gotzmann. Ähnlich deutlich wurde DOSB-Präsident Alfons Hörmann: "Wer die Werte des Sports wie Fair Play und Chancengleichheit auf diese bewusste Art mit Füßen tritt, muss auf die Strafbank."
McLarens Bericht hielt fest, dass in die Planung des einzigartigen Vertuschungsverfahrens des Labors in Sotschi unter anderem das Sportministerium, der Geheimdienst FSB und das Moskauer Stamm-Labor eingebunden waren. Eine vorher ausgewählte Gruppe russischer Athleten, die in Sotschi am Start waren, wurden demnach durch die Vertuschung von Proben geschützt. Bei allen Fläschchen mit den Proben wurden Manipulationen festgestellt, alle Deckel waren entfernt und später wieder angebracht worden.
Russland hatte schon vor der Veröffentlichung harten Widerstand gegen eine mögliche Komplettsperre angekündigt. "Es gibt ein Arsenal an legalen Mitteln für die Verteidigung der Interessen der Sportler, und Russland wird es bis zum Letzten ausschöpfen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau.
IOC muss nun handeln
Nun ist das IOC am Zug. Zuletzt hatte Bach versucht, den Sotschi-Skandal von den Spielen in Rio (5. bis 21. August) fernzuhalten, indem er die Wintersportverbände für zuständig erklärte. Der 62-Jährige, ein Intimus von Russlands Präsident Wladimir Putin und strikter Gegner von Sippenhaft-Maßnahmen, muss sich nun aber an seiner ersten klaren Reaktion nach der Veröffentlichung messen lassen.
Zudem steht Bach eine weitere Entscheidung mit enormer sportpolitischer Sprengkraft ins Haus, wenn er über das Startrecht der Whistleblowerin Julia Stepanowa für Rio befindet. Ebenfalls wegweisend: Bis Donnerstag will der Sportgerichtshof CAS über die Klage von 68 russischen Leichtathleten gegen die durch den Weltverband IAAF verhängte Kollektivsperre für Rio entscheiden.
Der oberste US-Dopingfahnder Travis Tygart, der einst den Super-Doper Lance Armstrong zur Strecke brachte, forderte Bach in einem Brief bereits dazu auf, noch "vor dem 26. Juli zu handeln und Russland, sein Olympisches und Paralympisches Komitee sowie sämtliche russischen Sportverbände von den Spielen in Rio auszuschließen". Am Wochenende schlossen sich 20 Nationale Anti-Doping-Agenturen, darunter auch die NADA, an.
Offenbar herrscht in den Reihen der Dopingjäger mittlerweile auch ein tiefes Misstrauen gegenüber der IOC-Führungsriege, die zwar gebetsmühlenartig den "Schutz der sauberen Athleten" und eine "Null-Toleranz-Politik" propagiert, gegenüber der Sportgroßmacht Russland bislang aber extrem zurückhaltend auftrat. Das könnte sich nun ändern.
Sollten die Wintersportverbände rückwirkend Strafen gegen russische Medaillengewinner von Sotschi vollziehen, dürfen auch deutsche Athleten hoffen. In drei Fällen würden sie bei nachträglichen Ausschlüssen auf den Bronzerang rutschen (Claudia Pechstein/Eisschnelllauf, Andi Langenhan/Rodeln, Patrick Bussler/Snowboard), in zwei Fällen sogar zu Olympiasiegern werden (Aljona Savchenko/Robin Szolkowy/Paarlauf, Männer-Staffel/Biathlon).