Es dauerte bis 0.47 Uhr. Dann war der Protest der plötzlich nur noch viertplatzierten Chinesin abgewiesen und auch das letzte Fragezeichen hinter einem chaotischen Hammerwurf-Finale ausradiert. Betty Heidler hatte Bronze gewonnen. Sie wird diesen dramatischen Londoner Abend nie vergessen. "Ich hab' echt Nerven gelassen. So etwas will ich nicht noch einmal haben", sagte Heidler. Die Panne hatte sie nicht nur um den Jubel nach einem weiten Wurf gebracht, auch eine Siegerehrung vor ihren Eltern und Freunden, die den Wettkampf live im Stadion verfolgten, wurde ihr verwehrt. Die Medaillenübergabe musste verschoben werden.
Dabei kann Olympia ganz einfach sein. Entweder die Latte fällt, oder sie fällt eben nicht. In einem atemberaubenden Dreikampf hatten Björn Otto und Raphael Holzdeppe den Topfavoriten Renaud Lavillenie am Rande einer Niederlage, die Bronze für den Franzosen bedeutet hätte. Wenn, ja wenn die Latte aus 5,97 Metern Höhe denn auch beim Europameister gefallen wäre. Im letzten Versuch Lavillenies aber blieb sie liegen. Ein eleganter, hochklassiger Sprung. Ein verdienter Sieger.
Und dennoch: Otto und Holzdeppe (je 5,91 m) hatten endlich die Vorschusslorbeeren gerechtfertigt, die deutsche Stabhochspringer vor Großereignissen seit 1996 immer wieder geweckt hatten. Damals hatte Andrej Tiwontschik in Atlanta Bronze geholt. Danach kamen Lobinger, Ecker und Co. - meistens blieb Blech. Tiwontschik saß an diesem Freitagabend übrigens auf der Tribüne. Als Coach von Jungstar Holzdeppe. Der 22-Jährige sprang beim Saisonhöhepunkt 10 Zentimeter höher als je zuvor. Chapeau!
Mit einem Maßband!
Den Hut ziehen wir auch vor Heidler. Erstaunlich ruhig meisterte sie das Drama um ihren nicht gemessenen 5. Versuch, obwohl der Ersatzwurf ebenso wie der letzte Durchgang sauber in die Hose gegangen war. Während ihr Trainer auf der Tribüne den Protest vorbereitete, verhandelte Heidler mit allen gleichzeitig. Mit Weitenmessern, Kampfrichtern, ihrem Coach und der moldawischen Konkurrentin. Die hatte sofort zugegeben, was alle Welt am Fernseher gecheckt hatte. Nämlich, dass die mickrigen 72,34 m, die man Heidler anhängen wollte, auf ihr Konto gingen. Die Deutsche hatte 77,13 m geworfen. Dieser Wert tauchte nach gut einer Stunde doch noch in den Tiefen der Datenbank auf. Rang drei, geht doch!
Der Tag zum Nachlesen im Ticker
Zwischendurch hatten die Verantwortlichen sogar ein Maßband von anno dunnemals auf dem olympischen Rasen ausgerollt. Ein Wahnsinn. Nach dem Protest Chinas lag Heidlers Weite offiziell nur noch bei 77,12 m. Wo der Zentimeter hin war, das wunderte nach all dem Hickhack niemanden mehr. Am wenigsten Heidler, die grinsend wie ein Honigkuchenpferd den Medienmarathon startete. Mit zwei Stunden Verspätung, auch schon wurscht!
"Das ist ein Skandal!"
Die deutschen Funktionäre werden mitnichten so schnell besänftigt sein. "Das ist ein Skandal", wetterte DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen, "das darf bei Olympia nicht passieren." Auch Chef de Mission Michael Vesper nannte den Vorgang einen "Skandal". DLV-Boss Clemens Prokop schimpfte: "Für Betty Heidler war das kein regulärer Wettkampf." Reagierten die Offiziellen dünnhäutig?
Kein Wunder. War es doch ein ganz mieses Deja vu, dass sich da im Olympiastadion abspielte und Erinnerungen an die versuchte Disqualifikation von Lilli Schwarzkopf im Siebenkampf weckte. Auch am 8. Tag war das dilettantische Gewerkel der Kampfrichter mit einem Schwarz-Weiß-Foto samt vorschnellem Urteil gut für die Athletin ausgegangen.
Ebenso das Fecht-Drama am 3. Tag um Britta Heidemanns Finaleinzug. Doch hätte das den erbosten Fans oder Heidler selbst Mut machen sollen? Mitnichten. Frag nach bei den Florett-Herren oder Turnküken Janine Berger. Nach dem Sprungfinale hatten schließlich ausgewiesene Experten beteuert, Rang vier für Berger sei ein Witz. Na toll. Olympia, die Lotterie?
Wie gut, dass die Basketballer mit ihrer Uhr (samt Hundertsteln, liebe Fechter) und der unergründlichen Tiefe an Stats zeigen, wie Olympia im Computer-Zeitalter rocken kann. Im Finale kommt es im Übrigen zu einer Neuauflage des Spiels um Gold von 2008: Spanien fordert am Sonntag das Dream Team.
Am Samstag stehen noch einmal satte 32 Entscheidungen auf dem Programm. Die erste deutsche Medaillenchance haben die Kanuten um Ronald Rauhe (9 Uhr im LIVE-TICKER). Im Finale gegen die Niederlande können die Hockey-Olympiasieger ihren Coup von Peking wiederholen. Am Abend stehen die letzten Leichtathletik-Entscheidungen der Spiele an.
Die Entscheidungen des Tages (Vorschau auf Tag 15):
Wettbewerb | Entscheidung |
Hockey, Frauen | Oranje feiert den Olympiasieg |
Fußball, Männer, Spiel um Bronze | Südkorea schlägt Japan |
Leichtathletik, Männer, Stabhochsprung | Lavillenie schockt DLV-Trio |
Leichtathletik, Frauen, Hammerwerfen | Lysenko mit Olympiarekord |
Leichtathletik, Frauen, 5.000 m | Defar düpiert Olympiasiegerin |
Leichtathletik, Frauen, 4 x 100 m | USA schlägt Jamaika mit Rekord |
Leichtathletik, Frauen, 1.500 m | Türkischer Doppelsieg |
Leichtathletik, Männer, 4 x 400 m | Bahamas halten USA in Schach |
Radsport, BMX, Frauen | Kolumbianerin triumphiert |
Radsport, BMX, Männer | Strombergs verteidigt Titel |
Ringen, Männer, 55 kg | Gold geht nach Russland |
Ringen, Männer, 74 kg | Burroughs setzt sich durch |
Schwimmen, Freiwasser, Männer, 10 km | Mellouli düpiert Thomas Lurz |
Schwimmen, Synchron, Mannschaft | Natürlich Gold für Russland |
Taekwondo, Männer, bis 80 kg | Erstes Gold für Argentinien |
Taekwondo, Frauen, bis 67 kg | Bronze für Helena Fromm |
Was sonst noch wichtig war:
Boxen: Unglaublich! Publikums- und Kampfrichterliebling Anthony Ogogo ist draußen! In seinem Halbfinale unterlag der Ex-Promi-Big-Brother-Bewohner dem Brasilianer Exquiva Falcao erstaunlich deutlich mit 9:16. Aber Bronze ist ihm ja immerhin sicher.
Handball: Und immer wieder Omeyer. Nein, das wird keine THW-Oleole-Meldung. Kiels Torwart überragt jedoch auch im olympischen Turnier. Der Beweis? 13 Paraden in Halbzeit eins des Semifinals. Thierry Omeyer führte seine Franzosen zum umkämpften 25:22-Erfolg über Kroatien. Im Finale wartet Schweden, das Ungarn mit 27:26 niederrang. Die Tre Kronor, immerhin Rekord-Europameister, waren noch nie Olympiasieger und hatten als Ziel für London das Viertelfinale ausgegeben. Schöne Verlängerung!
Kanu: Olympische Premiere für den 200-m-Sprint. Die deutschen Hoffnungen ruhen auf Ronald Rauhe. Der 30-jährige Recke kämpfte sich am Vormittag über vier harte Sprints sowohl im Einer-Kajak als auch im Zweier mit Jonas Ems in die A-Finals. Sebastian Brendel, Gold-Hero über die 1000 m, blieb auf der ungeliebten Kurzstrecke im Halbfinale hängen.
Leichtathletik: Usain Bolt bekam eine Pause. Am vorletzten Tag der Wettbewerbe im Olympiastadion hat Yohan Blake Titelverteidiger Jamaika ins 4 x 100-m-Staffelfinale geführt. Die USA war in ihrem Vorlauf in 37.38 Sekunden sogar eine Hundertstel schneller als der Erzrivale. Deutschland scheiterte in der Besetzung Julian Reus, Tobias Unger, Alexander Kosenkow und Lucas Jakubczyk als 7. des Vorlaufs (38.37). Um ganze 6 Sekunden liefen die 4 x 400-Mädels des DLV der Musik hinterher. Keine Chance für Esther Cremer, Janin Lindenberg, Maral Feizbakhsh und Fabienne Kohlmann auf den Endlauf.
Segeln: Die 470er-Männer Mathew Belcher und Malcom Page haben Australien endgültig zur Segelnation Nummer eins gekürt. Bei der dritten Aussie-Goldmedaille blieb Team Great Britain (nur eine Goldene) mit Luke Patience und Stuart Bithell erneut nur Silber.
Turnen: Ein Fangfehler am Ball beendete die Finalträume der deutschen Gymnastinnen. Die Gruppe des DTB wurde nur 10. Zuvor hatte auch Jana Berezko-Marggrander im Einzel als 17. Lehrgeld bezahlt. Das Band landete bei erst 16-Jährigen (Jüngste aller Quali-Teilnehmerinnen) in der vierten und letzten Übung außerhalb der Matte - ein schwerer Fehler. Dagegen führt Russland sowohl mit der Gruppe, als auch im Einzel dank Olympiasiegerin Jewgenija Kanajew.
Volleyball: Ein schwacher Trost für den DVV. Zwei Teams aus der deutschen Vorrundengruppe bestreiten das Endspiel um Gold. Weltmeister Brasilien schlug Italien locker mit 3:0. Zuvor waren die Russen mit einem 3:1-Erfolg über Deutschland-Schreck Bulgarien ins Finale eingezogen. Das Vorrundenduell zwischen den Endspielgegnern hatte Brasilien 3:0 gewonnen.
Wasserball: Das Turnier der Männer ist fest in europäischer Hand, nun steht das Finale. Der WM-Dritte Kroatien (7:5 gegen Montenegro) fordert Italien. Der Weltmeister gewann sein Halbfinale gegen Europameister Serbien mit 9:7.
Wasserspringen: Nur das chinesische Duo war besser. Sascha Klein und Martin Wolfram sind mit überzeugenden Serien auf den Rängen drei und vier ins Halbfinals vom Turm eingezogen. Stark!
Männer des Tages: Steve Hooker (30) und Brad Walker (31)
Echte Recken des Stabhochspringens aus Australien und den USA. Heute aber nach drei Sprüngen schon ein Häufchen Elend. Mit leeren Augen mussten Hooker (Olympiasieger 2008/5,96 m, Weltmeister 2009/5,90 m) und Walker (Weltmeister 2007/5,86 m) das Finale von London verfolgen, nachdem sie die Anfangshöhe von 5,65 m je drei Mal gerissen hatten. SALTO NULLO MAL ZWEI. Unfassbar: Brad Walker hatte dieses "Kunststück" schon 2008 in Peking ins Vogelnest gezaubert. Als Favorit. Bei - man ahnt es schon - 5,65 m.Frau des Tages: Squel Stein
Ob BMX mit dieser Sturzrate olympisch bleibt? Da wird es kritische Stimmen geben. Dagegen sprechen die herrlichen Bilder, die diese rasante Sportart liefert. Dafür hatten die Zuschauer des Frauen-Rennens am Freitag allerdings kaum noch Augen, nachdem die Brasilianerin Squel Stein nach bösem Crash auf einer Trage fixiert geborgen werden musste. Über die Schwere der Verletzung wurde am Abend nichts bekannt. Wir hoffen, das ist ein gutes Zeichen und wünschen gute Besserung!Sprüche des Tages:
"Ich hätte im Ring stehen bleiben sollen, bis meine Weite auf der Anzeigetafel erscheint. Künfig werde ich das wohl so machen." (Betty Heidler über Lehren aus dem Olympischen Chaos.)
"Es ist ganz egal, wie die Serie aussieht." (Noch einmal Heidler über einen denkwürdigen Wettkampf)
"Good old Maßband! Sicher made in Germany! Bronze für Betty Heidler." (Weitspringer Christian Reif. Er wird wissen, wovon er da twittert.)
"Ich wollte hier eine Medaille. Und was passiert? Ich lande auf meinem Arsch, das war's!" (BMX-Fahrer Quentin Caleyron nach seinem Sturz im Halbfinale)
Zahlen des Tages:
3.4 Sekunden lag Thomas Lurz im Ziel hinter Olympiasieger Oussama Mellouli. Nach 10 Kilometern im Freiwasserschwimmen wohlgemerkt.
10 Zentimeter. Um diese Höhe hat Raphael Holzdeppe seine persönliche Bestleistung in die Höhe geschraubt. Im Olympischen Finale. Saubere Sache!
13.5 Pünktchen. Um diesen Hauch schrammte Großbritanniens Teenie-Idol Tom Daley nach 6 durchwachsenen Sprüngen bei einer Gesamtpunktzahl von 448.45 auf Platz 15 am Vorrundenaus vorbei. Der 18-Jährige mit dem Milchgesicht hat Turmspringen salonfähig gemacht. Das mit dem Druck der ganzen Nation muss er bis zum Halbfinale aber besser handeln. Weiter kommen dann nur die Top 12.
27 Jahre hatte der Weltrekord der DDR über 4 x 100 m der Frauen gehalten. Dann kamen die US-Mädels...
55 Hundertstel. Im Sprint-Zirkus eine Welt. Um diese gute halbe Sekunde pulverisierten Tianna Madison, Allyson Felix, Bianca Knight und Carmelita Jeter in 40,82 Sekunden den ewigen Weltrekord der DDR-Staffel aus dem Oktober 1985. Die USA gewann übrigens zum ersten Mal seit Atlanta 1996 die kurze Sprintstaffel.
Name des Tages: Nur Tatar
Keine Namenswitze mit Taekwondo-Kämpferinnen, schon klar. Die 19-jährige Türkin fiel uns tatsächlich schon in ihrer 1. Runde lange vor dem Finaleinzug auf, als die SPOX-Redakteure Regelmann und Demireli sich schiedlich, friedlich auf das Finale Fromm vs. Tatar einigten. Und um ein Haar... Die junge Türkin mit dem kulinarisch klingenden Nachnamen verlor den Kampf um Gold, Helena Fromm gewann Bronze.