17. Februar 2002, Salt Lake City. Die Zuschauer im vollgepackten Salt Lake Ice Center warten gespannt auf den Start des Shorttrack-Finales über 1.000 Meter. Zehn Runden in wahnwitzigem Tempo, Körpereinsatz, Führungswechsel - und nach knapp eineinhalb Minuten hoffentlich Gold für Lokalmatador und Topfavorit Apolo Anton Ohno, erst 20 Jahre alt, aber bei der WM 2001 schon mehrfach dekoriert.
Außerdem im Feld der fünf Starter: Mitfavorit Ahn Hyun-soo aus Südkorea, der amtierende 1.000-Meter-Weltmeister Li Jiajun (China), der mehrfache Team-Weltmeister Mathieu Turcotte aus Kanada.
Und ein gewisser Steven Bradbury.
Man täte dem 28-Jährigen Unrecht, würde man ihn als Amateur oder Vollblinden abkanzeln. Schließlich hatte Bradbury acht Jahre zuvor in Lillehammer Bronze mit dem Team gewonnen. Aber in der Weltspitze hatte er über diese Distanz nichts verloren, ja nicht einmal ein einziges Top-10-Ergebnis in der aktuellen Saison vorzuweisen.
Überhaupt ist es schon ein kleines Wunder, dass Bradbury, der im Alter von acht Jahren mit dem Shorttrack angefangen hatte, noch bei Olympischen Spielen laufen kann. Oder überhaupt am Leben ist: Bei einem Weltcup in Montreal 1994 schlitzt ihm ein anderer Fahrer mit seinen rasiermesserscharfen Kufen den kompletten rechten Oberschenkel auf - Bradbury verliert mehrere Liter Blut und wird mit 111 Stichen genäht. Sechs Jahre später bricht er sich bei einem Trainingsunfall mehrere Halswirbel, muss monatelang eine Halo-Klammer tragen, die mit Schrauben in seinem Schädel befestigt wird.
In den Augen der Ärzte ist seine Karriere vorbei, doch Bradbury kämpft sich zurück. Die Förderung für seinen in Australien mehr als exotischen Sport ist überschaubar: "Ich musste mir ein paar Monate vor den Spielen in den USA 1.000 Dollar von meinem Vater leihen, um mein Auto zu reparieren, damit ich überhaupt zum Training fahren konnte."
Medaillenchancen in Salt Lake City hat Bradbury im fortgeschrittenen Shorttrack-Alter ohnehin nicht - aber er hat sich selbst etwas zu beweisen, will Wiedergutmachung für die Spiele 1994 und 1998: Dort ist er in seinen Einzelrennen jeweils gestürzt.
Bradbury in Salt Lake City: Mit Glück und Taktik im Finale
Eigentlich ist die Olympia-Karriere des für Shorttrack etwas zu groß gewachsenen Bradbury schon im Viertelfinale vorbei. Er gewinnt zwar seinen Vorlauf, aber dann wird er in ein Starterfeld mit Gold-Favorit Ohno und 1.500-Meter-Weltmeister Marc Gagnon gelost - nur zwei kommen weiter. Wie erwartet ist er gegen das Duo chancenlos und wird Dritter - aber dann wird der Kanadier wegen Behinderung disqualifiziert. Plötzlich steht Bradbury im Halbfinale.
Dort legt er sich mit Trainerin Ann Zhang einen ganz eigenen Plan zurecht: Seinen größten persönlichen Erfolg hat er schon erreicht, im Gegensatz zu seinen früheren Versuchen endlich seine Bestleistung gezeigt. Aber das dritte Rennen innerhalb kurzer Zeit - mit dem Finale potenziell ein viertes - ist eigentlich zu viel. "Ich war der Älteste im Feld und wusste, dass bei vier Rennen am Stück nichts mehr im Tank haben würde", sagt er später. "Es gab also keinen Grund, mich ins Getümmel zu stürzen, ich würde sowieso Letzter werden. Also dache ich mir: Ich halte mich raus und hoffe, dass sich ein paar andere verheddern."
Also läuft Bradbury im Halbfinale hinterher, hinter Titelverteidiger Kim Dong-sung, Jiajun, Turcotte und dem Japaner Satoru Terao. Die Taktik - oder eher "Hoffnung" - des Außenseiters geht tatsächlich auf: In der letzten Runde stürzen erst Dong-sung, dann auch Jiajun und Turcotte, und Terao wird später auch noch disqualifiziert. Bradbury kommt mit Jiajun ins Olympische Finale, die Jury schickt auch noch Turcotte in den Endlauf.
Jetzt sind es fünf Fahrer. Noch mehr Potenzial für Chaos ...
Bradbury gewinnt Olympia-Gold: "Fühlt sich nicht richtig an"
Im Rückblick ist das Finale über die 1.000 Meter ein faszinierendes Rennen, nicht nur aufgrund der denkwürdigen letzten Runde. Vom Start weg besetzt Bradbury die letzte Position. Während das Quartett vor ihm früh um die besten Positionen kämpft und es teilweise brutal eng zugeht, fährt er .. nicht "spazieren", aber doch vergleichsweise entspannt hinterher. Als wüsste er, was noch kommen würde. Drei Runden vor dem Ende muss er abreißen lassen, aber er hat den richtigen Riecher: Gold-Junge Ohno, der Südkoreaner, der Chinese, auch der Kanadier, dem noch die Einzelmedaille fehlt - keiner würde zurückstecken.
Das Rennen wird hektischer, der Ellbogeneinsatz in der Spitze immer offensichtlicher. Dann, Mitte der letzten Runde, fliegt Li Jiajun ab, weil er sich von außen in den Südkoreaner lehnt. Der kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, fällt nach vorn und reißt eingangs der Zielgeraden Ohno mit - und Turcotte fällt von hinten über das Duo.
Bradbury hat zu diesem Zeitpunkt gut 20 Meter Rückstand. Aber es hätten auch 30 sein können: Während sich Ohno und Turcotte verzweifelt aufzurappeln versuchen, trudelt er ganz gemütlich aus. Und ist Olympiasieger.
"Ich bin über die Ziellinie geglitten und wusste nicht, ob ich jubeln oder mich verstecken soll", erinnert sich Bradbury 20 Jahre später. Tatsächlich reißt er für einige Sekunden die Arme in die Höhe, aber ... es fühlt sich nicht richtig an. Das gibt er wenig später offen zu: "Ich war nicht so stark wie die anderen. Ich war einfach nur der Glücklichere." Und weiter: "An manchen Tagen lächelt Gott dich einfach an. Heute war mein Tag."
Bradbury wird zur Legende - und zum Sprichwort
In seiner Heimat wird Bradbury zum Volkshelden. Er ist der erste Australier - und der erste Athlet aus der südlichen Hemisphäre überhaupt -, der bei Winterspielen eine Goldmedaille gewinnt. Die Art und Weise gefällt nicht jedem. "Er sah aus wie eine Schildkröte hinter vier Hasen", schreibt USA Today despektierlich. Aber der neue Olympiasieger macht schließlich seinen Frieden mit dem überraschenden Triumph: "Es war der Lohn für 20 Jahre harte Arbeit, für lebensgefährliche Verletzungen und jede Menge Blut, Schweiß und Tränen."
Nach den Spielen in Salt Lake City 2002 wollte Bradbury eigentlich zum Feuerwehrmann umsatteln. Daraus wird nichts: Nach seinem Karriereende wird er TV-Experte und Teilnehmer an diversen Shows, sattelt zwischenzeitlich auf Autorennen um, bekommt eine eigene Briefmarke und wird in die Sport Australia Hall of Fame aufgenommen. Seine Autobiographie trägt den Namen Last Man Standing.
"Doing a Bradbury" - "einen Bradbury machen" - wird in Australien zum geflügelten Wort, schafft es sogar ins Wörterbuch. Ein Erfolg, vor allem im Sport, der durch Glück oder eben das Pech der anderen zustande kommt. "Ich liebe den Ausdruck", sagt er, "da stellen sich bei mir jedes Mal die Nackenhaare auf."
Ist es nicht irgendwo ein bisschen beleidigend? Das sieht er nicht so: "Den meisten Aussies ist klar, dass zunächst harte Arbeit vonnöten ist. Erst dann kannst du davon profitieren, wenn es für deinen Gegner nicht läuft."