Die Wahrheit hinter "besser als bumsen"

Von Jannik Schneider
Michael Rösch gewann 2006 in Turin mit der Staffel Olympia-Gold
© getty

2006 war Michael Rösch ein hochdekorierter Biathlon-Olympiasieger, galt als rechtmäßiger Thronfolger der Generation Groß, Fischer und Luck. An dieser Erwartungshaltung scheiterte er krachend, erfuhr Jahre später von seiner Nationalmannschaftsausbootung selbst nur aus dem Internet. Mit einem Nationenwechsel traf Rösch mit Ende 20 eine folgenschwere Entscheidung. Vier Jahre später freut er sich emotionsgeladen und unter Tränen über einen "popeligen sechsten Platz im Weltcup, der mir die Welt bedeutet". Eine Märchen-Story für echte Kerle.

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Da stand er, bereit zum obligatorischen TV-Interview nach einem stinknormalen Weltcup-Rennen. Ein Interview, das erfolgreiche Athleten in der so TV-präsenten Sportart Biathlon eben geben müssen, wenn sie mal wieder ein gutes Resultat erlaufen und erschossen haben. Doch für Michael Rösch, den einzig noch aktiven deutschen Olympiasieger, war in den vergangenen Weltcup-Wintern nichts mehr obligatorisch.

So verwandelte sich das Kurzinterview, die in der heutigen Zeit sportartenübergreifend mitunter so unfassbar aalglatt und langweilig sein können, in einen mehr als kurzweiligen und emotionalen Monolog des mittlerweile 33-Jährigen.

"Es ist zwar nur ein popeliger sechster Platz in einem Weltcuprennen. Aber für mich bedeutet er die Welt", sagte er unter Tränen und ergänzte sein Statement um einen Satz, der danach in den Sportmedien rauf- und runterzitiert wurde. "Das ist besser als bumsen."

Ein typischer Rösch

Dass er sein mit Abstand bestes Weltcup-Resultat seit seinem Nationenwechsel zum belgischen Verband noch seinem verstorbenen Trainer Klaus Siebert widmete, ging im Trubel um diesen flapsigen Satz fast unter - leider.

Dieser so nonchalante Satz ist ein typischer Rösch. Der gebürtige Sachse hat schon immer ohne den sportlerüblichen PR-Duktus geredet. Ein Spruch hier, ein Lacher dort. So war der Sohn des ehemaligen Weltmeisters Eberhard Rösch schon immer. Für jene vertraute Unbekümmertheit haben ihn die Wintersportfans vor mehr als zehn Jahren kennen und schätzen gelernt.

Doch die Art täuscht schnell über das hinweg, was dahintersteckt. Und das ist bei Michael Rösch viel mehr, als sich die meisten von uns hierzulande aufbürden würden.

Der tiefe Fall

Rösch ist tief gefallen. In der Saison 2009/10 wurde er mangels Ergebnissen in den zweitklassigen IBU-Weltcup zurückgestuft. Er, der Staffel-Olympiasieger von 2006. In Turin hatte der Jungstar mit unnachahmlich schnellem, fehlerfreiem Schießen und der zweitbesten Laufzeit (hinter Ole Einar Björndalen) maßgeblich zum letzten großen Sieg eines deutschen Teams beigetragen.

Hochgelobt war er bereits vorher, der vierfache Juniorenweltmeister. Der Altenberger sollte in die Fußstapfen der Generation um Frank Luck, Ricco Groß und Sven Fischer treten und erfüllte die Vorstellungen auch rasch. Podestplätze und Weltcupsiege folgten.

Dann verlor der Youngster scheinbar erst sein Selbstverständnis und wenig später seine Form. Nach nur einem "Stockerl" 2008/09 folgte ein Winter später die erwähnte Verbannung. Doch auch im IBU-Weltcup wurden die Resultate nicht besser.

Hausbau wird zum Kraftkiller

Privat hatte er sich wohl mehr aufgehalst, als ein Leistungssportler - und sei er auch noch so talentiert - stemmen kann. In seiner Altenberger Heimat hatte er schon länger damit begonnen, ein Haus zu bauen.

"Das war völlig sinnlos, weil das unglaublich viel Zeit und Kraft gekostet hat", erklärte Rösch in einem Interview mit der Welt im Jahr 2013 rückblickend. Vielsagend ergänzte er: "Türklinke, Teppich, Farbe, das war mir eigentlich total egal. Ich hatte total unterschätzt, dass es so stressig werden würde."

Der damals 26-Jährige verpasste nicht nur die Olympischen Spiele 2010 in Vancouver. Er wurde alsbald sogar nicht mehr für die zweite Liga nominiert, startete folglich nur noch im Deutschland Cup. Zwar schaffte er noch einmal die Rückkehr in den A-Kader der Nationalmannschaft, knüpfte aber nie mehr an die Weltklasseresultate früherer Jahre an.

Schmutziger Zwist mit dem DSV

Dann wurde es schmutzig: 2012 wurde er von den Verantwortlichen des DSV ausgemustert. Weil er nicht mehr gut genug war und die Perspektive fehlte. Von der Entscheidung erfuhr er lediglich über das Internet.

"Das hat mich gekränkt. Ich war lange eine Stütze im DSV", sagte er dem Tagesspiegel vergangenes Jahr. Es folgten Streitigkeiten mit dem Verband. "Das war alles suboptimal. Es lag auch an mir, beide Parteien haben eine Mitschuld. Denn keiner hat den ersten Schritt getan", räumte der Athlet ein.

Rösch wurde abgestempelt als jemand, der sein Talent verschwendet habe und generell ein schwieriger Charakter sei. Dies habe ihn in der Folge erneut sehr getroffen: "Natürlich gibt es einfachere Athleten. Ich bin so, wie ich bin. Aber ich habe meine Erfolge nicht durch meine große Klappe erreicht, sondern mit harter Arbeit."

Team Fischabfall

Dieser Machtkampf schien Rösch gekitzelt zu haben. Im gehobenen Sportleralter wollte es der 29-Jährige noch einmal wissen und strebte einen Nationenwechsel an. Belgien war interessiert. Doch der Einbürgerungsprozess wurde zum Marathon.

Rund zwei Jahre kämpfte Rösch - ganz auf sich alleine gestellt - um Pass und Starterlaubnis. "Diese Ungewissheit war zermürbend", schilderte Rösch. Zumal er viel aufs Spiel gesetzt habe. Der Biathlonverrückte gab für den Nationenwechsel seine Verbeamtung auf Lebenszeit bei der Bundespolizei auf. Und weil sich das Prozedere hinzog, sprang ein Sponsor nach dem anderen ab.

Seit Anfang 2014 darf er endlich für Belgien starten. Für Olympia war es da längst zu spät. Doch im Sommer gewann er die WM im Sommerbiathlon auf Rollen - die erste Medaille für Belgien überhaupt. Trainiert hatte er übrigens mit den beiden ebenfalls ausgemusterten Norwegern Alexander Os und Lars Berger in einer Art Wg.

Insgesamt bestritt das Trio der Nichtgewollten fünf Trainingslager gemeinsam. Sie nannten sich Team "Feskslog". Frei aus dem Norwegischen übersetzt bedeutet das nichts anderes als Fischabfall. Rösch nahm sein Schicksal gerne ironisch. Auch als im viel wichtigeren Winter 14/15 die Erfolge ausblieben und dann noch großes Pech dazukam.

Verletzungspech und Geldsorgen

Im Frühjahrstraining 2015 zog er sich einen verheerenden Achillessehnenriss zu und kommentierte es auf seiner Facebook-Fanpage süffisant mit den Worten: "Das Pech scheint mir wortwörtlich an den Fersen zu kleben."

Als sei das nicht schon schlimm genug, setzte ihn ein pfeifferisches Drüsenfieber außer Gefecht. Doch noch mehr als die körperlichen Schmerzen beutelte den Sachsen finanzielle Probleme.

"Das Geld ist momentan die größte Sorge", bekannte er 2015 gegenüber der dpa: "Von den ohnehin zahlenmäßig nicht vielen Sponsoren sind einige abgesprungen." Bereits in der Vorsaison habe er 65.000 Euro selbst investiert und Minus gemacht. Um sich den Traum vom Biathlon weiter zu erfüllen, verkaufte er sein Haus.

"Bei ihm muss man die Pferde einfangen"

Doch Rösch gab nicht auf. Der innere Antrieb und die Liebe zu diesem Sport hielten den Einzelkämpfer ohne Trainer, Wachser, Mediziner oder Physiotherapeut in der Bahn. Sein langjähriger Coach Klaus Siebert unterstützte ihn in dieser Zeit aus der Ferne weiter mit Trainingsplänen.

"Michael ist extrem ehrgeizig. Ab und zu muss man bei ihm die Pferde einfangen. Aber er wird seine innere Ruhe wieder finden. Vielleicht ist bald mehr drin als Platz 32", erklärte er nach einem Sprint in Oberhof.

Kampfgeist wird belohnt

Der Kampfgeist wurde peu a peu belohnt: Seit diesem Frühjahr trainiert Rösch mit dem Schweizer Team zusammen. Zudem fand der 33-Jährige einen neuen Sponsor. Sein Vater stand und steht für ihn am Schießstand.

Die deutschen Meisterschaften im Herbst sollten ein Formcheck werden - doch der Erfolg blieb aus und auch der Start in den Winter verlief holprig. Bis zu jenem Verfolgungswettkampf am 6. Dezember in Pokljuka. Da hatte Siebert seinen eigenen Kampf gegen den Krebs bereits verloren und Rösch wusste im anschließenden Interview trotz aller Euphorie, bei wem er sich zu bedanken hatte.

Tage später war Rösch überwältigt von den Reaktionen, die sein Auftritt zur Folge hatte. "Die Kommentare der Menschen sind durchweg positiv und herzergreifend gewesen", erklärte er vor Wochenfrist gegenüber Sport1 und ergänzte: "Es gab viel, worauf ich verzichten musste, ich habe viel Zeit und Schmerz investiert. Ein bisschen Genugtuung war auch dabei. Es ist ein schönes Gefühl, zu sehen, dass ich mit einem sechsten Platz Menschen bewegen kann."

Rösch wird weiterhin viel investieren, damit diese Gefühle wieder Normalität werden. Weitere Weltklasseleistungen wären ihm zu gönnen. Und das Gute bei Michael Rösch ist: Selbst, wenn die Erfolge wieder zum Alltag werden sollten - langweilige Interviews mit ihm werden eher die Ausnahme bleiben.

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