Um 2 Uhr morgens war für Alexander Zverev noch lange nicht Schicht. "Jetzt muss ich so schnell wie möglich ins Hotel, habe Behandlungen und dann werde ich schlafen gehen", sagte der Olympiasieger erschöpft, aber zufrieden. Mit dem Willenssieg gegen den starken Herausforderer Holger Rune und dem Viertelfinaleinzug hat der 27-Jährige zu vorgerückter Stunde das Tor in Paris weit aufgestoßen. Alles scheint für Zverev bei den French Open möglich - die Diskussionen um die späten Spielzeiten halten derweil an.
"Ich bin einfach froh, dass ich überlebt habe und im Viertelfinale stehe", meinte Zverev, der 4:11 Stunden gegen den frechen Dänen schuften musste, ehe er um 1.40 Uhr vor den verbliebenen Zuschauern auf dem Court Philippe Chatrier die Arme hochreißen durfte. "Was für ein Kämpfer vor dem Herrn", sagte Boris Becker bei Eurosport zum 4:6, 6:1, 5:7, 7:6 (7:2), 6:2-Erfolg gegen seinen Ex-Schützling Rune.
Zverev verlagerte mit dem verwandelten Matchball sofort seinen Fokus auf die Regeneration - gegen den formstarken Australier Alex de Minaur braucht er am Mittwoch wieder Frische in den Beinen und im Kopf. "Jetzt habe ich achteinhalb Stunden gespielt an den vergangenen drei Tagen und muss mich wieder fit machen", sagte der Weltranglistenvierte, der mit großer körperlicher und mentaler Resistenz beeindruckt: "Das Turnier ist nicht vorbei für mich, ich will weitermachen." Schon in der dritten Runde hatte er unter Druck gegen Tallon Griekspoor sein bestes Tennis abgerufen und als Stehaufmännchen geglänzt.
Gegen Rune bewahrte Zverev im Tiebreak des vierten Satzes und dann im entscheidenden Durchgang die Nerven - zu einem Zeitpunkt, an dem der Körper normalerweise nach Ruhe verlangt. Die Diskussionen um die unnötig späten Spielzeiten waren schon zuvor wieder aufgeflammt und erhielten weitere Nahrung. Titelverteidiger Novak Djokovic hatte im Drittrundenmatch gegen den Italiener Lorenzo Musetti erst zur Paris-Rekordzeit um 3.07 Uhr seinen Job erledigt, nun folgte Zverevs Nachtschicht.
French Open: Boris Becker findet späte Duelle "verrückt"
Becker bezeichnete die späten Duelle dieser Tage als "verrückt" und die Organisatoren als unprofessionell. "In welcher anderen Sportart muss man das leisten, was die Tennissportler leisten?", fragte Becker nun. "Das ist definitiv nicht gesund und nicht fair für diejenigen, die spät spielen müssen", sagte die US-Open-Siegerin Coco Gauff. Es ruiniere den Tagesablauf.
Statt die Matches nach dem Beginn am Vormittag aneinanderzureihen, lassen die Organisatoren teilweise Stunden ohne Ballwechsel auf dem Court Philippe Chatrier verstreichen. Aufgrund der TV-Verträge ist ein Beginn der letzten Partie des Tages nicht vor 20.15 Uhr möglich - oft schieben längere Partien davor, wie am Montag durch Djokovic, den ersten Aufschlag noch einmal heraus.
Zverev muss nun damit leben, er spürt noch Kraftreserven. "Ich hoffe aber, dass ich irgendwann auch mal nicht in fünf Sätzen gewinne", sagte der einstige Weltranglistenzweite, der gegen de Minaur bislang eine 7:2-Bilanz hat und seinen vierten Halbfinaleinzug in Serie in Paris schaffen könnte. Dann würde womöglich Djokovic warten oder Zverevs Vorjahres-Bezwinger Casper Ruud.
Es geht in die Crunchtime in Paris. Und Zverevs Titelträume werden immer realistischer.