Kommentar zu Nick Kyrgios: "Bad Boy"-Gehabe als Selbstschutz vor bitteren Wahrheiten

Von Stefan Petri
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Nick Kyrgios hat das Wimbledon-Finale gegen Novak Djokovic verloren. Im ersten Grand-Slam-Endspiel seiner Karriere zeigte sich der 27-Jährige zunächst von seiner besten Seite, nur um dann doch in seine bekannten Rollenmuster zurückzufallen. Hinter dem "Bad Boy"-Gehabe des Australiers steckte diesmal auch Selbstschutz vor den bitteren Wahrheiten seines Sports - und das Zurückschrecken vor zu hohen Erwartungen. Helfen könnte Kyrgios dabei ausgerechnet der Blick auf seinen Gegner. Ein Kommentar.

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Einen Satz lang wurde den Zuschauern auf dem Centre Court die perfekte "Nick Kyrgios Experience" geboten. Nahezu perfektes Tennis, mit dem vielleicht besten Aufschlag auf diesem Planeten und fehlerfreiem, variablem Spiel von der Grundlinie. Dazu genau die richtige Dosis Extravaganz, die beim Australier einfach dazugehört, die die Zuschauer begeistert und ihn für den Gegner unberechenbar macht: Ass mit dem Zweiten, Aufschlag von unten, ein Tweener ... sogar die Schlaghand wechselte er einmal.

Und, noch viel wichtiger: Kyrgios hatte seine Nerven bei seinem ersten Grand-Slam-Finale voll im Griff, war mental bei der Sache, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das Gesamtpaket, von dem man eigentlich schon seit seinem Sieg über Rafael Nadal bei Wimbledon 2014 weiß, dass es ihn nach ganz oben tragen kann: Es war da.

Und dann, als Kyrgios sein Level nicht mehr ganz halten konnte, als der Djoker immer besser returnierte, kaum noch Schwächen zeigte, kam auch der Teil der "Nick Kyrgios Experience" zum Vorschein, den man sich gern erspart hätte. Das Gemecker und Gemotze, die sinnfreien Verbalattacken gegen Stuhlschiedsrichter, Zuschauer und sogar die eigene Box.

Das gehört eben dazu beim "Bad Boy" und "Strafen-König" des Tennis, möchte man meinen. Eigentlich das perfekte Schleifchen um diesen Nachmittag, an dem dann doch irgendwie alles so lief, wie man es vielleicht erwarten konnte.

Dennoch ist es schade, denn: Im wichtigsten Match seines bisherigen Lebens, auf der größtmöglichen Bühne, schien Nick Kyrgios den Blick auf die unerbittlichen Wahrheiten eines Duells mit dem Serben - und auf die Anforderungen seines Sports - zu verweigern.

Wimbledon: Kyrgios nimmt Kampf gegen Djokovic nicht an

"Man kann sich auf Kyrgios nicht vorbereiten, er ist ein Genie und unberechenbar", sagte Djokovics Coach Goran Ivanisevic nach dem Finale. "Wir haben uns darauf fokussiert, was Novak tun muss." Genauso hätte es auch der Außenseiter anpacken müssen, mit dem Unterschied, dass der Djoker in seinen Qualitäten vergleichsweise berechenbar ist. Nämlich: Er steigert sich im Matchverlauf. Niemand returniert so gut wie er. Und: Er kommt immer wieder zurück. Nicht umsonst ist er auf dem Centre Court in Wimbledon seit 2013 (!) unbesiegt.

Und so war es auch diesmal so, dass der Serbe zurückkam. Aber Kyrgios schien sich dieser unausweichlichen Wahrheit nicht stellen zu wollen: Egal wie gut, wie perfekt du spielst - gegen Djokovic wird es einfach unfassbar schwer!

Statt diesen Kampf anzunehmen und sich auf das eigene Spiel zu fokussieren, verlor er sich in Nebenkriegsschauplätzen. Verlangte, eine Zuschauerin rauszuwerfen, weil sie in sein Spiel hineingerufen habe - als ob es Djokovic im Finale 2019 gegen Roger Federer besser ergangen wäre. Schrie minutenlang seine komplette Box an, weil sie beim Stand von 40:0 nicht standesgemäß gefeiert und er ja nur deswegen sein Service doch noch abgegeben hatte. Irre.

Oder einfach nur Selbstschutz. Weil er seine Felle davonschwimmen sah.

Novak Djokovic (v.) hatte mit Nick Kyrgios lange Zeit seine liebe Müh und Not.
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Novak Djokovic (v.) hatte mit Nick Kyrgios lange Zeit seine liebe Müh und Not.

Wimbledon: Kyrgios, das Frustrationsmonster

Dass der ganz große Knall ausblieb, lag wohl auch daran, dass ihn sein großartiger Aufschlag (30 Asse) im vierten Satz bis in den Tiebreak trug. Wobei der eine oder andere "Mini-Ausraster" durchaus auch mal gut tun kann, das sieht man ja beim Mann auf der andere Seite des Netzes. Der Unterschied: Djokovic nimmt sich dadurch nicht raus aus dem Match, er ist unheimlich schnell wieder voll da. Und Kyrgios hatte ja gesehen, wie es gehen kann, selbst gegen den Titelverteidiger.

Nur: Das ist hart. So unglaublich hart. Gerade in dieser Ära der "Big Three", wo in so ziemlich jedem Finale einer der "GOAT"-Kandidaten wartet, wer auch immer das dann am Ende sein mag. Federer, Nadal und Djokovic haben Standards gesetzt und neue Levels erreicht. Durch unbedingte Hingabe und Kampfgeist, durch Aufopferung bis zum Raubbau am eigenen Körper. Durch die richtige, eisern geschulte Mentalität.

Doch wo Novak Djokovic ein Mentalitätsmonster ist, da ist Kyrgios bisher nur ein Frustrationsmonster.

Wimbledon: Die Gewinner im Einzel im Überblick

JahrSiegerFinalistErgebnis
2022Novak DjokovicNick Kyrgios4:6, 6:3, 6:4, 7:6(3)
2021Novak DjokovicMatteo Berrettini6(4):7, 6:4, 6:4, 6:3
2020ausgefallen, COVID-19-Pandemie
2019Novak DjokovicRoger Federer7:6(5), 1:6, 7:6(5), 4:6, 13:12(3)
2018Novak DjokovicKevin Anderson6:2, 6:2, 7:6(3)
2017Roger FedererMarin Cilic6:3, 6:1, 6:4
2016Andy MurrayMilos Raonic6:4, 7:6(3), 7:6(2)
2015Novak DjokovicRoger Federer7:6(1), 6(10):7, 6:4, 6:3
2014Novak DjokovicRoger Federer6(7):7, 6:4, 7:6(4), 5:7, 6:4
2013Andy MurrayNovak Djokovic6:4, 7:5, 6:4
2012Roger FedererAndy Murray4:6, 7:5, 6:3, 6:4

Auch wenn seine Chancen trotz des gewonnenen ersten Satzes klein waren. Selbst wenn er am Ende mit fliegenden Fahnen untergegangen wäre: Er hätte sich seiner Aufgabe stellen müssen. So aber waren alle anderen schuld, nur er selbst nicht.

Es wäre bei Kyrgios so viel mehr drin, würde er sich seinem Sport so verschreiben, wie es die Großen Drei tun. Aber der ungeschönte Blick auf diese Wahrheit ist alles andere als angenehm. "Du könntest so viel mehr erreichen, wenn du nur ..." - das hört niemand gern. Und große Erwartungen an sich selbst, die blockt er lieber ab. "Wenn ich einmal eine Grand-Slam-Trophäe nach oben strecke, dann erwartet bloß keine weitere von mir", sagte er schon vor dem Finale. Je geringer die Erwartungen, desto kleiner die Enttäuschungen.

Kyrgios: Rückfall in die Rolle des liebenswerten Tennis-Chaoten

Und so schien Kyrgios am Ende des Matches in seine alte Rolle zurückzufallen. In den Lieblingsanzug, der so gut passt - oder in seinem Fall wohl lieber die gemütlich eingelaufenen Air Jordans. Schon beim Handshake lachte und scherzte er mit Djokovic, feierte den Sieger als "ein bisschen wie ein Gott" - mit anderen Worten: Wie soll ich so jemanden bloß besiegen? - und antwortete auf die Frage, ob er jetzt hungrig auf mehr sei, mit den Worten: "Ganz sicher nicht. Ich bin so müde." Das sorgte für Lacher, aber vielleicht war auch ein Fünkchen Wahrheit dabei ...

Es ist die Rolle des unterhaltsamen, fast schon charmanten Tennis-Tausendsassas, dem der ganz große Wurf leider verwehrt bleibt, der damit aber sehr gut umgehen kann. Auch das macht sympathisch, darin lässt es sich gut leben. Vielleicht ist auch schlicht und ergreifend nicht mehr möglich: Kyrgios hatte vor einiger Zeit seinen Kampf mit mentalen Problemen öffentlich gemacht, womöglich ist sein Verhalten die ihm einzig mögliche Reaktion auf den Tennis-Zirkus und die Erwartungen, die an ihn herangetragen werden.

Nach dem Finale blieb bei mir allerdings folgender Gedanke hängen: Vielleicht schmerzt diese Niederlage Kyrgios nicht so sehr, wie sie es eigentlich sollte, um ihn noch einmal anzutreiben für den zweiten Teil seiner Karriere. Um zu sehen, was wirklich drin ist, wenn er bereit - und in der Lage - wäre, alles auf den Sport auszurichten.

Und das wäre - das sage ich als Tennis-Fan - sehr traurig.

Wimbledon: Der "Djoker" als gutes Vorbild für Kyrgios

Die gute Nachricht: Wie es gehen kann, das zeigt Kyrgios' neuer Bruder im Geiste. Man darf nicht vergessen, dass der in seinen Anfangsjahren auf der Tour in einer nicht unähnlichen Situation war, mit einer unangreifbaren Doppelspitze bestehend aus Federer und Nadal, die sich die Slams schon damals brüderlich aufteilten.

Und so suchte sich Djokovic seine Nische - und fand sie nicht in der Rolle des Seriensiegers, sondern des Spaßvogels. "Djoker", der Spitzname geboren aus den Imitationen anderer Tennis-Größen. Erst als er den Weg zur unbedingten Professionalität fand, mit Ernährung, Schlaf, mentalem Training und vielem mehr, konnte Nole mit den lebenden Legenden mithalten - und wurde selbst zu einer.

Dieser Weg, er ist für Kyrgios wohl mittlerweile zu weit. Aber man muss ja nicht immer gleich zum Tennis-Gott aufsteigen.

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