"Ich weiß, dass ich gerade großartiges Tennis spiele." Noch vor einem Jahr wäre Angie Kerber dieser Satz nicht mal im kleinsten Kreis über die Lippen gekommen. Jetzt saß sie dort auf einer der größten Pressebühnen ihres Sports in den Katakomben des Arthur Ashe Stadiums, aufrecht und mit fester Stimme. Wer Kerber dort zuletzt vor einem Jahr gesehen hatte, der musste zwei Mal hinschauen.
2015 hockte Kerber dort nach dem wohl großartigsten Match des Jahres auf dem Damencircuit und war nur noch ein Häuflein Tennisprofi. 5:7, 6:2, 4:6. Das Aus gegen Victoria Azarenka in Runde 3 der US Open in einem Spiel mit insgesamt 97 Gewinnschlägen. Wieder einmal hatte Kerber brilliant aufgespielt, die Gegnerin zur Höchstleistung getrieben - und wieder stand sie mit leeren Händen da.
"Das soll einfach nicht klappen mit mir, oder?", schrieb sie anschließend an Barbara Rittner. Zaghaft, zweifelnd, um Hilfe bittend. Das war Angie Kerber, bevor sie um den Jahreswechsel herum den Schalter im Kopf fand.
In Singapur, bei den WTA-Finals Ende Oktober 2015 hat sie sich nach eigener Aussage zum letzten Mal Druck gemacht. Seither wirkt ihr neuer mentaler Kniff.
Sie schiebt von sich, was ihr den Fokus auf ihr Tennisspiel stiehlt. Sie lernt an sich zu glauben. Sie feilt mehr an ihren Stärken als über die Schwächen nachzugrübeln. Und sie lernt das Neinsagen.
Mit knapp 28 Jahren erfindet sich Kerber mental neu.
Ja, die Linkshänderin steht auch näher an der Grundlinie, übernimmt mit ihren starken Grundschlägen häufiger die Initiative, verbessert ihr Winkelspiel und bleibt dank ihrer schnellen Beine die beste Defensivspielerin auf der Tour. Doch der Kopf ist der Schlüssel, der sie zu einer noch besseren Spielerin macht. Er sorgt für den entscheidenden Schritt ganz nach oben.
Der Sieg in Melbourne zeugt bereits von Kerbers neuer Stärke. Sie beweist - vor allem sich selbst - dass sie das Spiel und die Mentalität hat, jeden zu schlagen. Der Sieg in Stuttgart deutet an, dass sie immer besser mit dem neuen Rummel um die Grand-Slam-Siegerin zurechtkommt. Der Finaleinzug in Wimbledon beweist schließlich, dass die Australian Open keine Eintagsfliege waren.
Und nun steht Angelique Kerber überraschend an der Spitze der Weltrangliste. Herrlich geerdet, fern jeglicher Starallüren. Und sie steht nicht da oben, weil Serena W. Knieschmerzen hatte. Oder Maria S. wegen einer Dopingsperre fehlt.
Nein, Angelique Kerber ist die neue Nummer eins der Tenniswelt, weil sie endlich selbstbewusst auftritt. Ihr Beispiel zeigt, dass vermeintliche Grenzen nicht gelten müssen.
Die Weltrangliste der Damen