Vorjahressieger John Degenkolb wird wehmütig vor dem Fernseher sitzen, André Greipel seine gebrochenen Rippen weiter kurieren. Wenn am Samstag mit der 107. Ausgabe von Mailand-Sanremo die Zeit der großen Frühjahrsklassiker beginnt, sind die aussichtsreichsten deutschen Radprofis zum Zuschauen verurteilt. Die Bühne beim längsten Rennen im Kalender dürfte Weltmeister Peter Sagan, Altmeister Fabian Cancellara oder dem Vorjahreszweiten Alexander Kristoff gehören.
"Ich hätte mit der Nummer eins an den Start gehen können. Das jetzt zu Hause vor dem Fernseher zu verfolgen, wird sehr schwer", sagt Degenkolb, der 2015 mit seinen Triumphen bei der Primavera und bei Paris-Roubaix für Sternstunden gesorgt hatte. Der 27-Jährige ist gleichwohl heilfroh, dass er seinen Horrorunfall im Januar und die folgenden fünf Operationen einigermaßen gut verdaut hat, wobei an ein Comeback des Wahl-Frankfurters vor Mai nicht zu denken ist.
Auch Kittel und Ciolek fehlen
Am Donnerstag hat Degenkolb (Giant-Alpecin) zumindest das Training wieder aufgenommen, obwohl der bei einem Frontalcrash mit einer britischen Autofahrerin zerfetzte Zeigefinger noch nicht wieder voll funktionstüchtig ist und auch die Brüche im Unterarm noch nicht ganz verheilt sind. "Ich fange mehr oder weniger bei null an", sagt der gebürtige Geraer, der sich nun voll auf die Tour de France im Juli konzentriert. Bei den Klassikern will er dann im kommenden Jahr wieder auftrumpfen: "Ich will nochmal dahin kommen, wo ich war."
Ähnlich wie Degenkolb fühlt Greipel (33/Lotto-Soudal), der auf der Via Roma ebenfalls weit vorne landen wollte, aber nun mit Sturzfolgen aus der Algarve-Rundfahrt passen muss. "Ich hatte mir viel vorgenommen, aber die Gesundheit geht vor", sagt der Rostocker. Seit Jahren ist Mailand-Sanremo ein Ziel für den zehnmaligen Tour-Etappensieger, bislang war ihm das Glück aber nicht hold.
Da auch Marcel Kittel (Arnstadt/Etixx-Quick Step) nicht dabei ist und Gerald Ciolek (Köln), der Sieger von 2013, ebenfalls fehlt, weil sein Team Stölting keine Einladung erhielt, ist ein deutsches Top-Ergebnis so gut wie ausgeschlossen. Der Berliner Simon Geschke (Giant-Alpecin) ist vielleicht zu einer guten Platzierung fähig.
Cancellara in Top-Form
Der Kreis der Favoriten bei der über 290 km langen Plackerei besteght so vor allem aus dem Slowaken Sagan (Tinkoff), dem Schweizer Cancellara (Trek-Segafredo) und Kristoff (Katjuscha). Gerade der 28-jährige Norweger, der 2014 triumphierte, strotzt vor Selbstvertrauen und hat bereits fünf Saisonsiege zu Buche stehen.
Im Vorjahr war nur Degenkolb im Sprint schneller als er gewesen. "Ich glaube, dass Alexander Kristoff gewinnen wird", meint Degenkolb. Aber auch auf Weltmeister Sagan werden sich wie gewohnt viele Augen richten. Der extrovierte Slowake nimmt 2016 den nächsten Anlauf zu einem großen Klassikersieg, der seine beeindruckende Vita weiter aufwerten würde.
Cancellara ist in seiner letzten Karriere-Saison in überragender Verfassung. Der Sanremo-Gewinner von 2008 will den Frühjahrsklassikern noch einmal seinen Stempel aufdrücken. 2015 war für den 34-Jährigen schmerzvoll gewesen, geprägt von schweren Stürzen und Verletzungen. Die Abschiedstour genießt er bisher. "Ich weiß, es ist alles das letzte Mal. Ich bin gelassen, ich habe Freude", sagt Cancellara.