Das Konzept von Zeitreisen funktioniert in Filmen oder Literatur nicht zuletzt deshalb, weil sich dadurch abbilden lässt, wie sich Welten, Gesellschaften, Verhalten über Zeiträume verändern. Der Reisende wird auf einmal mit Realitäten konfrontiert, die in seiner Zeit undenkbar, verpönt oder was auch immer gewesen wären. Es werden permanent Augen geöffnet.
So dürfte es am Dienstag auch einigen Beobachtern ergangen sein, die bei "Dennis Schröder in Berlin" noch auf dem Stand von 2015 geblieben waren. Die vermutlich kaum glauben konnten, dass ebenjener Schröder wenige Minuten vor Schluss mit seinem zweiten Technical in einem EM-Viertelfinale rausmusste, trotzdem bejubelt wurde und nach dem Spielende noch eine Ehrenrunde mit seinen Kindern auf dem Parkett drehte, unter tosendem Applaus. Den er sich verdient hatte.
Aber so ist die Realität Mitte September 2022. Das DBB-Team spielt sein bestes Turnier seit knapp zwei Jahrzehnten und greift nach einer Medaille. Mit einem Kapitän namens Schröder, der kein perfektes Turnier spielt, der aber wie der perfekte Anführer für dieses Team auftritt. "Es ist die Rolle, die zu ihm passt", erklärt sein Entdecker Liviu Calin gegenüber SPOX.
Schröder-Entdecker verrät: Darum ist er momentan so gut
Über viele Jahre haftete Schröder der Ruf an, zu oft die eigene Nummer anzusagen, zu sehr auf sich selbst fixiert zu sein. Das Thema gab es in der Nationalmannschaft (nach 2015 auch bei der WM 2019), aber auch in der NBA - nicht von ungefähr. Es hat schon seine Gründe, weshalb Schröder derzeit noch keinen Vertrag für die kommende Saison hat.
Wie Schröder sich aktuell präsentiert, passt jedoch nicht zu diesem Ruf. Er nimmt noch immer viele Würfe, das ist aber auch seine Rolle. Und er ist eben nicht nur auf sich fixiert, sondern teilt den Ball und offensive Verantwortung bereitwillig. Er nimmt sich auch mal zurück, investiert mehr Energie in defensive Aufgaben und bestärkt seine Mitspieler.
Calin identifiziert zwei primäre Gründe dafür: "Wenn Coaches ihn verstehen, ihm eine klar definierte Rolle geben, dann kann er sich auch unterordnen und hält sich an die Regeln", sagt der heutige Co-Trainer der Basketball Löwen Braunschweig. "Er braucht eine Struktur, eine Philosophie um ihn herum. Die hat er bei der Nationalmannschaft."
Dennis Schröder: Es liegt nicht nur an ihm
Der zweite Grund klingt sehr simpel, ist aber umso nachvollziehbarer: "Die Qualität der Mitspieler ist besser", sagt Calin. "Früher war seine Tendenz: Wenn die anderen etwas nicht machen, muss er es machen. Das führte zu Hektik, zu falschen Entscheidungen. Jetzt hat er mehr Vertrauen in seine Mitspieler und trifft bessere Entscheidungen."
Dieses Vertrauen kommt nicht von ungefähr. Auch wenn viele Spieler absagen mussten, hat das DBB-Team tatsächlich eine Tiefe und Qualität, die es so vermutlich noch nie hatte. Fast alle Spieler sind EuroLeague- oder NBA-erfahren, Gordon Herbert setzt sehr regelmäßig zehn Spieler ein und bekommt von jedem etwas. Das ist eine Rarität.
Noch seltener ist, gerade in Bezug auf das DBB-Team, die Präsenz von drei kreierenden Spielern in Schröder, Franz Wagner und Maódo Lô. Es gibt generell eine Variabilität in der Offensive, wie man sie zumindest in Schröders Karriere (und vermutlich auch davor) so noch nie gesehen hat. Es gibt eine gesunde Verteilung der offensiven Usage, auch das war schon oft anders - aber eben auch in Ermangelung von Alternativen.
Franz Wagner schwärmt von Dennis Schröder
Schröder bleibt dennoch unangefochten der Chef - allerdings auf eine sehr natürliche, ebenfalls gesund wirkende Art. Dabei ist er individuell nicht mehr der beste Spieler des Teams, das ist Wagner, dieser ist allerdings auch gerade erst 21 Jahre alt geworden. Und er profitiert sehr von Schröder, wie das gesamte Team.
"Sein größter Impact ist das, was er dem Team mental gibt", sagte Wagner nach dem Viertelfinale zu MagentaTV. "Er geht super als Leader voran, nimmt alle mit und bringt Selbstbewusstsein und diese Selbstverständlichkeit, dass wir in jedes Spiel gehen und daran glauben, dass wir das gewinnen."
Im Viertelfinale war dieser Aspekt wieder sehr gut zu sehen. In wackligen Phasen war es Schröder, der den griechischen Guards ihr jeweils drittes Foul anhängte und Hellas so den Rhythmus ein Stück weit nahm. Er kontrollierte das Spiel, fand sehr oft die richtige Balance aus Pass, Drive und eigenem Distanzwurf.
Schröder: Darum ist die EM-Teilnahme ein Risiko
26 Punkte und 8 Assists waren es am Ende, individuell klar seine beste Performance bei diesem Turnier. Interessanterweise traf Schröder bei einem großen Turnier insgesamt noch nie schwächer aus dem Feld (39,6 Prozent) - und trotzdem dürfte es eindeutig das Turnier sein, das den größten positiven Eindruck hinterlässt. Und das zum perfekten Zeitpunkt.
Das darf ja nicht vergessen werden: Dass Schröder in Berlin dabei ist, ist aus seiner Sicht riskant. Als Free Agent hat er keine Sicherheit, mit einer Verletzung könnte sich die Chance auf den nächsten Job massiv verringern. Das hielt ihn aber nicht davon ab, erneut von Anfang an seine Zusage zu geben.
"Seine Bereitschaft, den deutschen Basketball zu unterstützen, hat erste Priorität", sagt Calin, der hofft, dass sein früherer Schützling von dieser Entscheidung profitieren wird. "Seine Leistungen beweisen, dass er ein guter Spieler ist, auch in der NBA. Diese Vorstellung ist vielleicht auch nochmal für andere Mannschaften ein Argument, um ihn aufzunehmen."
Dennis Schröder: Der ideale Leader
Gerüchten zufolge ist das so. Laut mehreren Berichten beschäftigen sich die Dallas Mavericks mit Schröder, ein Kontingent der Franchise beobachtete ihn in der Vorrunde in Köln. Auch andere Teams werden sehen, wie Schröder bei diesem Turnier auftritt. Wie er ein Team unter die letzten Vier geführt hat, das außerhalb des Teams niemand dort erwartet hätte.
"Ich versuche, Leadership zu bringen", sagt Schröder über seine Leistungen bei der EM (MagentaTV). "Zu Punkten, meine Mitspieler in Szene zu setzen, gut in der Defensive zu stehen. Das ist meine Identität und das versuche ich jeden Tag zu bringen." Das sind vielleicht Plattitüden, aber sie sind glaubhaft.
"Vor vielen Jahren hat mich Chris Fleming gefragt, wie er mit diesem Spieler umgehen soll. Ich habe ihm gesagt: 'Du musst ihm Vertrauen geben, ihn führen lassen'", sagt Calin. "Er mag es, ein Leader zu sein." Und offensichtlich kann er es auch.