"Eigentlich wollte ich mich nur volllaufen lassen": Als Paul Gascoigne auf dem Zahnarztstuhl jubelte

gazza
© imago images

Englands Sommermärchen 1996 begann auf einem imaginären Zahnarztstuhl. Auftakt der SPOX-Serie: Legendäre Torjubel und die Geschichten dahinter.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Paul Gascoigne hatte im Sommer 1996 gleich zwei Termine auf dem Zahnarztstuhl. Den ersten rund zwei Wochen vor Beginn der Heim-EM auf der anderen Seite des Planeten. Zur Turnier-Vorbereitung war die englische Nationalmannschaft nach Asien gereist. Auf ein 3:0 gegen China folgte ein 1:0 gegen Hongkong. Daraufhin gab Trainer Terry Venables der Mannschaft frei.

"Er hat uns nach dem Hongkong-Spiel gesagt, dass wir tun könnten, was wir wollten, um zu relaxen", erzählte Jamie Redknapp später in einem Doppel-Interview mit Gascoigne der Daily Mail. "Es war mein 29. Geburtstag", berichtete Gascoigne. "Also dachte ich: 'Okay, verdammt noch mal, ich gehe aus.' Eigentlich wollte ich mich einfach nur volllaufen lassen. Aber es wurde eine legendäre Nacht!"

Gemeinsam mit Redknapp, Steve McManaman, Teddy Sheringham und weiteren Kollegen zog der für seine Verrücktheiten berüchtigte Gascoigne los. Irgendwann landeten sie in einer Bar mit integriertem Zahnarztstuhl. Die Aufgabe lautete, sich daran fixieren zu lassen, zurückzulehnen und Schnaps in den Schlund geschüttet zu bekommen. Fotos davon landeten in der Presse, die Sun titelte in Versalien mit der Wortkreation "Disgracefool". Eine Mischung aus "schändlich" und "Idioten".

Weil es jetzt eh schon egal war, randalierten die Spieler bei der Heimreise auch noch ein bisschen im Flugzeug. Unter anderem zerstörte Gascoigne mehrere Bildschirme, nachdem er mitbekommen hatte, dass ihm Redknapp und Robbie Fowler im Schlaf die Augenbrauen abrasiert hatten. Der nächste Skandal. "Die Medien schlachteten uns für all das. Doch das hat uns nur noch näher zusammenrücken lassen", erinnerte sich Gascoigne.

Paul Gascoigne feiert sein Traumtor gegen Schottland auf dem Zahnarztstuhl

Von Sommermärchen-Stimmung war in England vor der Coming-Home-EM jedenfalls keine Rede, schon gar nicht nach dem Auftakt-Remis gegen die Schweiz. Im zweiten Spiel ging es im Wembley Stadium ausgerechnet gegen den Erzrivalen Schottland. Der Druck war groß, ein Sieg Pflicht und Gascoigne dachte schon an den Jubel. "Ich werde morgen treffen", habe er tags zuvor in der Kabine zu seinen Kollegen gesagt. "Und dann machen wir den Zahnarztstuhl."

Der spätere Turnier-Torschützenkönig Alan Shearer schoss England in Führung, Gascoigne besorgte in Minute 79 mit dem womöglich schönsten Treffer des Turniers das 2:0. Erst ein Lupfer über einen Gegenspieler, dann volley hinein ins Tor und ab auf den imaginären Zahnarztstuhl.

Gascoigne drehte ab, ließ sich auf den Rücken fallen, streckte alle Viere von sich, schloss die Augen, öffnete den Mund. Schon waren Shearer, McManaman und Redknapp parat und spritzen ihm mit Trinkflaschen ins Gesicht. "Ärgerlich nur, dass Lucozade (in England populärer zuckerreicher Softdrink, Anm. d. Red.) drinnen war und kein Gin", scherzte Gascoigne später.

Der spektakuläre Treffer samt selbstironischem Torjubel gegen den Erzrivalen war Englands Startschuss in einen wunderbaren Fußball-Sommer. Nach einer Gala gegen die Niederlande schalteten die Three Lions zu den Klängen von "Football's Coming Home" im Viertelfinale Spanien aus. Vorbei war der Traum erst im Halbfinale gegen Deutschland, Gareth Southgate vergab im Elfmeterschießen entscheidend. Das Aus dürfte Gascoigne und Co. mehr geschmerzt haben als die Besuche auf dem Zahnarztstuhl.