Die Antithese für Schubladendenker: Eine Hommage zum Karriereende von Thiago

Von Justin Kraft
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Thiago hängt seine Fußballschuhe an den Nagel. Damit geht der Mann, der spanischen und deutschen Fußball in sich vereinen konnte, wie kein anderer. Künstler und Malocher zugleich. Eine Hommage.

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Wie sieht der perfekte Fußball aus? Diese Frage stellen sich viele Fans, Trainer, Spieler und Verantwortliche immer wieder. In Deutschland gibt es eine klare Mehrheitsmeinung: Malochen müssen die elf Spieler auf dem Feld und dann kann man ihnen am Ende nichts vorwerfen.

"Alles raushauen" wurde in den vergangenen Jahrzehnten zur Standardphrase im deutschen Fußball. Spieler, die mit der feinen Klinge agieren, haben es hierzulande schwer, wenn sie das deutsche Arbeitsethos nicht verinnerlichen.

Und dann war da Thiago, der 2013 nach München kam, und die Deutschen vor innere Konflikte stellte. Schönwetterfußballer, verletzungsanfällig, nicht da, wenn es drauf ankommt - Vorurteile gab es selbst dann noch, als er am Ende seiner Zeit beim FC Bayern mit dem Champions-League-Pokal im Arm auf dem Rasen in Lissabon lag.

Doch Vorurteile kümmerten Thiago nicht. Schon gar nicht, wenn sie von außen kamen. Viele Interviews gab er nicht, ein großer Lautsprecher nach außen war er ebenfalls nicht. Intern aber übernahm er im Laufe der Jahre immer mehr Verantwortung.

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Thiago Alcantara: Antithese für Schubladendenker

Thiago vereinte beide Welten. Er war die perfekte Symbiose aus deutschem und spanischem Fußball. Je länger er bei den Bayern spielte, desto mehr passte er sich der Bundesliga und ihren Gegebenheiten an, nahm sich die besten Elemente der deutschen Fußballkultur und integrierte sie in sein Spiel.

Nach und nach widerlegte er alle Klischees, die ihm entgegengebracht wurden. Da wäre beispielsweise die Verletzungsanfälligkeit. In den Spielzeiten 2013/14 (1.743 Minuten) und 2014/15 (760 Minuten) war Thiago kein großer Faktor. Fortan absolvierte er aber einen Großteil der Spiele, kam bis auf eine Saison (2017/18; 2.101 Minuten) immer auf mehr als 2.700 Pflichtspielminuten.

Ab der Saison 2014/15 bestritt er für die Bayern jede letzte Champions-League-Paarung - war also immer da, wenn es zur Sache ging. In den überwiegenden Fällen stand er in der Stammelf. Und ja, Thiago war ein unglaublicher Techniker. Aber bei weitem kein Schönwetterkicker. Über Jahre hinweg war er der zweikampfstärkste Mittelfeldspieler des FCB.

Auch deshalb agierte er irgendwann als Sechser. Er kontrollierte das Spiel mit dem Ball, konnte das des Gegners aber auch in der Arbeit gegen den Ball zerstören. Thiago fing Pässe ab, ging robust in Zweikämpfe und führte sein Team mit Laufarbeit und großem Willen an. Er war die Antithese für Schubladendenker, die plötzlich mehr als ein Fach an ihrem Meckerschreibtisch öffnen mussten und damit ebenso überfordert waren wie Spieler, die versuchten, dem Spanier den Ball abzunehmen.

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Thiago: Der Meister des ersten Kontakts

Thiago war der Meister des ersten Kontakts. Erst mit ihm lernten die Deutschen, dass eine Ballannahme mehr sein kann als einfach nur die Kontrolle des Balls. Im Bruchteil einer Sekunde machte Thiago etwas mit seinen Füßen, das selbst in Zeitlupe die Augen des durchschnittlichen Fußballfans überforderte. Plötzlich war er vorbei an seinem Gegenspieler, obwohl er kurz zuvor noch mit dem Rücken zu ihm positioniert gewesen war.

Bei Thiago sah alles so einfach aus, so spielerisch leicht, so unglaublich elegant. Jeder Pass, jedes Dribbling und jeder Laufweg war als Pinselstrich zu verstehen. Und alle Pinselstriche ergaben am Ende eines Spiels ein Gemälde, an dem sich genau ablesen ließ, warum er wie gehandelt hatte. Intuition und strategisches Denken zugleich.

Als Pep Guardiola die Bayern im Jahr 2016 verließ, fehlte es dem Rekordmeister an Struktur, an taktischer Tiefe und auch an System. Carlo Ancelottis lange Leine funktionierte nicht – zumindest nicht lange. Auch Nachfolger scheiterten daran, dem bayerischen Spiel wieder mehr Komplexität zu verleihen - in der positivsten aller Deutungen.

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Thiago trug die Bayern fast im Alleingang

Nur an einer Achse bestehend aus Manuel Neuer, Thiago und Robert Lewandowski war es festzumachen, dass dieser Klub dennoch international konkurrenzfähig war. Ausgerechnet als sein großer Förderer Guardiola weg war, startete Thiago in seine beste Zeit beim FC Bayern. Weil er sich emanzipierte von den Vorurteilen, die ihn umgaben. Weil er hineinwuchs in eine verantwortungsvolle Rolle.

Thiago trug das Spiel der Münchner nahezu im Alleingang. Wenn er mal fehlte, wurde deutlich, wie ideenlos und leer das Spiel der Bayern zu dieser Zeit wirkte. Nahezu alle Kreativität ging von ihm aus. Und bis heute wird seine Bedeutung selbst von jenen unterschätzt, die ihn wertschätzen. Auch weil seine letzten Jahre beim FC Liverpool das eine oder andere Klischee nochmal wiederbelebt haben.

Sehr guter Fußballer, wichtiger Spieler - das wird ihm alles nicht gerecht. "In unserem Legenden-Team ist ein Stammplatz immer reserviert", erklärte Jan-Christian Dreesen zum Abschied des Spaniers. Gemeint hat er damit die Truppe, die den FC Bayern unter anderem bei Benefizveranstaltungen vertritt. Der Begriff "Legende" wird dort sehr weit definiert.

Selbst aber, wenn man ihn sehr eng definiert, gehört Thiago zu den Legenden des FCB. Neben der reinen Anzahl an Titeln, die er mit den Münchnern gewann, ist es die Art und Weise, mit der er die Herzen der Fans eroberte. Thiago war ein einzigartiger Fußballer. Und letztendlich auch die Antwort auf die Frage, wie perfekter Fußball aussieht.

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