Den richtigen Zeitpunkt für den Abschied zu finden, ist für Profifußballer ein schwieriges Unterfangen. Unendlich viele Faktoren spielen eine Rolle. Was ist noch möglich mit meiner Mannschaft? Kann ich mein Niveau halten oder werde ich nur noch schlechter und zerstöre meinen Ruf? Bin ich meinen Kollegen noch Hilfe oder schon Belastung? Was denken die Fans? Was denken Frau und Kinder?
Wenige Fußballer hören zu früh auf, viele zu spät. Manche bereuen ihren Abschied und feiern deshalb ein Comeback. Sei es im Klub oder in der Nationalmannschaft, als Faustregel gilt erfahrungsgemäß: schlechte Idee. Besser als früher wird's selten. Toni Kroos dagegen machte mit seiner Rückkehr ins DFB-Team für die Heim-EM alles richtig. Tatsächlich legte er im Alter von 34 Jahren eines der bemerkenswertesten Comebacks in Deutschlands Fußball-Geschichte hin.
Seine Rückkehr bescherte Kroos zwar keinen zusätzlichen Titel. Davon hat er aber eh schon genug. 34 Stück, um genau zu sein - darunter sechs Henkelpötte und einen WM-Pokal. Stattdessen gewann Kroos im letzten Moment doch noch die Herzen seines Heimatlandes. Anders als bei seinem ersten Abschied 2021 geht er bei seinem zweiten und finalen Abschied 2024 als Liebling der Nation. Es ist eine unwahrscheinliche, ja eine unglaubliche Wendung.
Man könnte das alles für einen genialen Plan halten. Aber nein, sowas kann niemand planen. Nicht einmal Toni Kroos, einer der vorausschauendsten Fußballer überhaupt. Sowohl was sein Spiel angeht, als auch seine Karriere. Es war eine Fügung, die wunderbar zu ihm passt. Irgendwas passiert und am Ende gewinnt Kroos. Normalerweise Titel, diesmal eben Herzen.
Toni Kroos: In Spanien gefeiert, in Deutschland kritisiert
Kroos ist kein spektakulärer Fußballer und kein spektakulärer Typ, das war er noch nie. Er spielt, wie er lebt: ruhig, bedacht, bisweilen ein bisschen emotionslos. Als Teenager galt er als Supertalent, beim FC Bayern gelang ihm der Durchbruch, mit der Nationalmannschaft gewann er 2014 die WM. Obwohl er als Passmaschine das deutsche Spiel entscheidend prägte, waren andere die gefeierten Helden: Torwart Manuel Neuer, Kapitän Philipp Lahm, Siegtorschütze Mario Götze, der blutüberströmte Bastian Schweinsteiger, WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose.
Nicht nur viele hiesige Fußballfans verwehrten Kroos die entsprechende Wertschätzung, sondern auch sein Arbeitgeber FC Bayern. Kroos und der deutsche Branchenprimus einigten sich nicht auf eine Vertragsverlängerung, also wechselte er nach dem WM-Titel zum weltweiten Branchenprimus Real Madrid. Trauer oder gar Wut darüber herrschte beim FC Bayern nicht.
In Spanien avancierte Kroos fortan zum Strategen eines Champions-League-Seriensiegers, in Deutschland dagegen zum Gesicht des kriselnden DFB-Teams. Deutsche Nationalspieler im Ausland werden hierzulande zwar traditionell kritisch beäugt. Aber wohl nie zuvor wurde ein Fußballer in zwei Ländern dermaßen unterschiedlich bewertet wie Kroos in Spanien und Deutschland. Dort Don Antonio, hier "Querpass-Toni" und "Dieseltraktor" - so hat ihn Bernd Schuster tatsächlich mal genannt. Dort gilt der saubere Pass als höchstes Gut, hier als langweilig.
Schon nach dem WM-Fiasko 2018 erwog Kroos einen Rücktritt aus dem DFB-Team. Nach dem Achtelfinal-Aus bei der EM 2021 vollzog er ihn schließlich. Wie schon beim FC Bayern betrauerten deutsche Fans und Experten auch seinen Abschied vom DFB-Team eher nicht.
Toni Kroos im DFB-Team: Vom Rücktritt zum Comeback
Die Reaktionen der nationalen Fußball-Meinungsführer waren vernichtend. Laut Bayern-Patron Uli Hoeneß habe Kroos "in diesem Fußball nichts mehr verloren", Lothar Matthäus hatte ihn schon während der EM als "größtes Problem" der Nationalmannschaft ausgemacht. Statistisch belegbar waren all diese Vorwürfe zwar nicht, ganz im Gegenteil. Aber was sind schon Statistiken im Vergleich zu Aussagen eines Matthäus oder Hoeneß?
In seiner Stellungnahme zum Rücktritt bedankte sich Kroos für ihn typisch süffisant bei allen "Kritikern für ihre Extramotivation". Mit seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft verschwand Kroos noch weiter aus dem deutschen Blickfeld, als er es seit seinem Abschied vom FC Bayern ohnehin schon war. Die Debatten um seine Person und Spielweise klangen entsprechend ab. Warum sollen sich deutsche Kritiker schon mit jemandem beschäftigen, der weder für Bayern noch die Nationalmannschaft spielt?
Extramotiviert gewann Kroos mit Real daraufhin prompt einen weiteren Champions-League-Titel, während die Nationalmannschaft ohne Kroos noch tiefer in die Krise schlitterte. Desaströse WM in Katar, Entlassung von Hansi Flick, deprimierende Testspiele gegen Österreich und die Türkei: Ein halbes Jahr vor der Heim-EM lag das DFB-Team am Boden. Vielleicht war Kroos ja gar nicht das Problem gewesen?
Ob es mit ihm in der Zwischenzeit besser gelaufen wäre, sei dahingestellt. Er hat sich aber jedenfalls rechtzeitig verabschiedet, um trotz zweieinhalb Jahren Abwesenheit immer noch auf der Höhe seiner Schaffenskraft zurückzukehren und seinen Abschied grundlegend umzuschreiben. Der Comeback-Organisation zuträglich waren die kurzen Kommunikationswege, der neue Bundestrainer Julian Nagelsmann und Kroos haben mit Volker Struth schließlich den gleichen Berater.
Der Hype um Toni Kroos steigerte sich kontinuierlich
Chefkritiker Hoeneß wertete Kroos' Rückkehr zwar als "Titanic-Signal", generell wurde sie in Deutschland aber wohlwollend aufgenommen. Schlechter konnte es ja eh nicht mehr werden. Mit zwei herausragenden Auftritten bei den März-Testspielen gegen Frankreich und die Niederlande drehte Kroos kurzerhand die Stimmung um die Nationalmannschaft und begründete einen Hype um seine Person, den er im Frühling kontinuierlich steigerte. Mit seiner Ankündigung, nach dem Turnier seine Karriere zu beenden. Last-Dance-Flair! Dann mit seinem sechsten Champions-League-Titel. Als Henkelgott schlug er schließlich in Deutschlands EM-Camp auf.
Vielleicht auch ein kleines bisschen beschämt vom einstigen Umgang mit dem erfolgreichsten Fußballer des Landes wurde Kroos fortan allseits abgefeiert. Die Experten lobten, die Fans kauften massenweise seine Trikots und huldigten ihm in jedem Stadion mit "Toni, Toni"-Sprechchören. Dazu warfen sie ihre Arme andächtig nach vorne, so wie es die Argentinier bei Lionel Messi gerne machen. Während sich Fußball-Deutschland mit dem einst verschmähten Kroos versöhnte, versöhnte sich das Land auch mit seiner Nationalmannschaft. Sportlich und atmosphärisch war Kroos' Comeback ursächlich für dieses aus deutscher Sicht erfreuliche Turnier.
Dass sich Kroos trotz standesgemäßen Pass-Rekorden bei der EM nicht in Bestform präsentierte und Deutschland nicht zum ersehnten Titel führte, spielte letztlich keine Rolle. Nach dem bitteren Ausscheiden gegen seine Wahlheimat Spanien feierten ihn die Fans emotional wie nie zuvor. Völlig unverhofft, aber gleichzeitig völlig verdient beendet Kroos seine DFB-Karriere im zweiten Versuch als Liebling der Nation.