Daten-Maschinerie im Hintergrund: Wie Bundestrainer Julian Nagelsmann beim DFB-Team mit Statistiken arbeitet

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Daten spielen bei der Arbeit von Bundestrainer Julian Nagelsmann eine wichtige Rolle. Einblicke in die gewaltige Maschinerie im Hintergrund und die Zusammenarbeit mit der Firma Impect.

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Die aufsehenerregendsten Entscheidungen seiner bisherigen Amtszeit traf Bundestrainer Julian Nagelsmann bei der Kadernominierung für die beiden erfolgreichen Testspiele im März gegen Frankreich und die Niederlande. Er berief etliche Neulinge und dazu Rückkehrer Toni Kroos, verzichtete dafür auf Routiniers wie Leon Goretzka und Mats Hummels. Ein revolutionärer Kader, der als Grundlage für das jetzige EM-Aufgebot diente.

Als Begründung für seine Entscheidungen zog der Bundestrainer damals wiederholt Daten heran. Warum Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt vom VfB Stuttgart sein DFB-Debüt feiert? Weil er "statistisch gesehen der mit Abstand beste Linksverteidiger in der Bundesliga und einer der Top-4-Linksverteidiger der Welt ist". Warum Nagelsmann Kroos nach drei Jahren Abwesenheit zu einem Comeback überredet hat? Weil er "in Europa der Spieler mit den meisten überspielten Gegnern ist - und zwar mit Abstand". Und übrigens: "Jeder, der noch von Querpass-Toni schreibt, hat keine Ahnung vom Fußball."

Nagelsmann definiert sich zwar selbst als "Bauchgefühlsmensch", legt bei seiner alltäglichen Arbeit aber dennoch sehr großen Wert auf Daten - nie zeigte sich das offensichtlicher als bei jener Pressekonferenz. "Die Tatsache, dass er seine Kadernominierung vor den März-Länderspielen auch mithilfe von Daten untermauert hat, spricht meiner Meinung nach für sich", sagte Pascal Bauer im Gespräch mit SPOX.

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Daten beim DFB: Einsatz in allen Bereichen

Bauer - 31 Jahre alt, Mathematiker, ausgestattet mit einer Trainer-Lizenz - arbeitet seit 2019 als Videoanalyst für den DFB und ist Teil des sogenannten "Team Fußballdaten und Forschung". Es umfasst sechs Festangestellte und im Vorfeld der EM zusätzlich bis zu zehn Praktikanten, Werkstudenten und externe Experten. Außerdem unterhält der DFB ein weiteres Team mit Fokus auf Videoanalysen und taktischen Auswertungen um Nagelsmanns Co-Trainer Benjamin Glück. Nagelsmann und Glück arbeiteten schon bei der TSG Hoffenheim, RB Leipzig und dem FC Bayern München zusammen.

Der Analysten-Kader des DFB ist prall gefüllt, er könnte eine Fußballmannschaft samt Ersatzspielern stellen. Gekümmert wird sich neben der Männer-Nationalmannschaft auch um alle anderen Auswahlteams sowie die Talentförderung und Trainerausbildung. Der Einsatz von Daten ist beim DFB mannigfaltig, erklärt Bauer: "Die Fitnesstrainer nutzen Positionsdaten und GPS-Gurte zur Belastungssteuerung, die Spielanalysten verwenden datengetriebene Ansätze zur Automatisierung wiederkehrender Aufgaben, die Torwarttrainer bekommen Daten zum Schussverhalten unserer Gegenspieler und unser Standardtrainer Mads Buttgereit erhält regelmäßig detaillierte Auswertungen über unsere Performance bei Standardsituationen im internationalen Vergleich."

Woher kommen all die Daten? Schon seit längerem bezieht der DFB Statistiken vom Unternehmen Sportec Solutions. Kurz nach Nagelsmanns Amtsübernahme wurde zusätzlich eine Zusammenarbeit mit Impect abgeschlossen. Der Firma der beiden ehemaligen Bundesliga-Profis Stefan Reinartz und Jens Hegeler, den Erfindern der sogenannten Packing-Methodik.

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Rasante Entwicklung im Hintergrund: Wie Impect seit 2015 expandiert

Es waren diese Packing-Werte, auf die sich Nagelsmann bei seinen Kader-Erklärungen im März bezog. Anders als bei traditionell genutzten Statistiken - etwa Pass- und Zweikampfquoten - dient beim Packing stets der Gegenspieler als Kontext. Ermittelt wird, wie viele Gegner ein Akteur mit einer Aktion aus dem Spiel nimmt.

Dank Nagelsmanns Aussagen feierte das Packing ein Comeback auf der großen Öffentlichkeits-Bühne. Erstmals im Fokus stand die damals neuartige Methodik bei der EM 2016, Impect-Mitgründer Reinartz brachte als ARD-Experte der breiten Öffentlichkeit das Konzept näher. 27 Jahre war er damals alt, nach Stationen bei Bayer Leverkusen, dem 1. FC Nürnberg und Eintracht Frankfurt hatte Reinartz kurz zuvor seine aktive Karriere beendet, um sich gemeinsam mit Hegeler seinem neuen Projekt zu widmen.

Nach diesem Anfangshype verschwand das Packing zwar weitestgehend aus dem öffentlichen Fokus, im Hintergrund wuchs die Firma Impect aber rasant. "Angefangen haben wir bei der Gründung 2015 mit Studenten der Sporthochschule Köln, da hatten wir ein Pool von bis zu 50 Leuten. Dort sind wir aber bald an Grenzen gestoßen", sagt Reinartz zu SPOX. "Wir mussten einen neuen Standort aussuchen und haben uns für die Philippinen entschieden." Englisch als zweite Amtssprache, niedrige Lohnkosten, gute Infrastruktur. "Der Internetausbau ist dem in Deutschland dramatisch überlegen", sagt Reinartz. Aktuell hat Impect 300 Angestellte auf den Pazifikinseln.

Nach Experimenten mit Medien wie eben bei der EM 2016 sowie mit Wettanbietern konzentriert sich die Firma mittlerweile auf die Zusammenarbeit mit Klubs und Verbänden. Insgesamt bedient Impect derzeit über 80 Vereine - es ist eine bunte Mischung: 15 von 18 Bundesligisten, sechs Klubs aus der Premier League, deutsche Regionalligisten und außereuropäische Topklubs wie Vissel Kobe oder der Los Angeles FC. Außerdem bestehen Kooperationen mit drei Verbänden, darunter eben dem DFB.

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Impect und der DFB: So funktioniert die Zusammenarbeit

"Wir unterstützen die Klubs bei der Analyse eigener Spiele und beim Scouting für Neuzugänge", sagt Reinartz. "Bei den Verbänden habe ich ursprünglich gedacht, dass unsere Daten nur für die Bewertung eigener Spieler in den eigenen Spielen relevant sind. Mittlerweile werden sie aber auch für Kader-Nominierungen genutzt. Das ist Scouting in Miniaturformat." Siehe Maximilian Mittelstädt.

Der DFB bezieht Impect-Zahlen deshalb von allen großen Ligen. "Es interessieren uns nicht nur die Daten unserer Spieler, sondern auch internationale Top-Spieler pro Position zum Vergleich", erklärt DFB-Analyst Bauer. So konnte Nagelsmann Mittelstädt öffentlichkeitswirksam zu einem der Top-4-Linksverteidiger der Welt küren. Abgesehen von Rohdaten beliefert Impect den DFB auch mit "dezidierten Reports und Dashboards", erklärt Bauer: "Dort werden die wichtigsten Erkenntnisse bei der Fülle an Daten nochmals kompakt zusammengefasst."

Beim DFB schätzt man vor allem die persönliche Zusammenarbeit mit Reinartz, Hegeler und auch Turid Knaak. Die ehemalige deutsche Nationalspielerin arbeitet mittlerweile ebenfalls für Impect. "Sie verstehen nicht nur die Daten, sondern sprechen auch die Sprache unserer Trainer und Trainerinnen", lobt Bauer.

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Toni Kroos und Stefan Reinartz kennen sich von Bayer Leverkusen

Die gängigste Impect-Kennzahl ist die der überspielten Gegner mit einem Pass, seit jeher die Paradedisziplin des vermeintlichen Querpass-Toni. Ermittelt werden aber auch andere Werte wie überspielte Gegner als Passstation, ein Indikator für kluges Freilaufverhalten. "Damit beispielsweise Toni Kroos einen guten Pass spielen kann, muss es auf der anderen Seite einen Spieler geben, der sich gut gezeigt hat", erklärt Reinartz. "In dieser Rubrik haben wir in Deutschland mit Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz einige der weltbesten Spieler."

Anders als Musiala und Wirtz wird wie Real Madrids Kroos auch Havertz vom FC Arsenal in Deutschland bisweilen kritisch gesehen. Reinartz erkennt dabei ein Muster: "Viele deutsche Legionäre kommen hierzulande in der Öffentlichkeit nicht gut weg - vor allem technisch begabte Spieler. Das betrifft nicht nur Kroos, sondern beispielsweise auch Havertz und früher Mesut Özil."

Kroos und Reinartz kennen sich seit gemeinsamen Zeiten in Leverkusen übrigens bestens. Während seiner aktiven Karriere ließ sich Reinartz zudem genau wie Kroos von Volker Struths Agentur Sports 360 beraten, ein weiterer berühmter Klient ist Bundestrainer Nagelsmann.

Reinartz war bereits in Kroos' Podcast "Einfach mal Luppen" zu Gast, Kroos trat im Gegenzug in Reinartz' Analyse-Format "The Mixtape" bei Amazon Prime auf. Als Kroos 2021 seinen mittlerweile revidierten Rücktritt aus der Nationalmannschaft verkündete, postete Impect in seinen sozialen Netzwerken eine Grafik mit Kroos' beeindruckenden Packing-Werten bei den zurückliegenden Turnieren und schrieb mit Blick auf die Querpass-Toni-Kritik: "Vielleicht verstehen sie es, wenn du weg bist."

Deutschland, Fahrplan bis zur EM 2024: Die Termine im Überblick

DatumEreignis
3. Juni 2024Testspiel gegen Ukraine
7. Juni 2024Testspiel gegen Griechenland
7. Juni 2024Einreichung der Spielerlisten bei der UEFA
14. Juni 20241. EM-Gruppenspiel gegen Schottland
19. Juni 20242. EM-Gruppenspiel gegen Ungarn
23. Juni 20243. EM-Gruppenspiel gegen die Schweiz