SPOX: Wie sicher waren Sie 2007, dass das Finale gegen Polen nach diesem Halbfinale auch gewonnen wird?
Kraus: Zu hundert Prozent. Die Polen hatte eine bockstarke Truppe, aber wir hatten nacheinander Spanien und Frankreich aus dem Weg geräumt und wussten, dass wir dieses Finale vor unseren Fans in Köln nicht verlieren werden. Das war unvorstellbar. Aber unvorstellbar war dann auch, wie das Finale ablief. Wir hatten das Spiel total unter Kontrolle, aber dann kamen die Polen zurück und plötzlich verletzte sich Henning Fritz. Jogi Bitter, der vorher keine Minute gespielt hatte, kam rein und hielt einfach alles. Was für eine Geschichte. Wie für Hollywood gemacht. Ich sehe mich nach dem Spiel noch auf der Platte stehen, alle jubeln, mein Blick in die Zuschauer schweifend, ich entdecke meinen Vater, der mir ganz ruhig und zustimmend zunickt. Nach dem Motto: Gut gemacht, Junge. Ich kriege gerade Gänsehaut, wenn ich darüber spreche. Wahnsinn. Plötzlich stand ich im All-Star-Team der WM und bin völlig unvorbereitet davon überrollt worden, das hat mich im Nachhinein viel Kraft gekostet.
SPOX zeigt Mimi Kraus den Zusammenschnitt seiner Tore bei der WM 2007
"Was für ein junger Spund"
"Geile Frise"
"Schau mal, da hatte Omeyer noch Haare"
SPOX: Welche Rolle hat Heiner Brand 2007 gespielt?
Kraus: Heiner war der ruhende Pol. Er hat uns vor jedem Spiel auf den Punkt vorbereitet. Er hat uns genau erklärt, was auf uns zukommt und es hat jedes Mal gestimmt. Heiner hat mit seiner unglaublichen Erfahrung ganz genau gewusst, wie er uns wieder runterholt, wenn wir wieder mal auf 180 waren. Das hat er richtig geil gemacht.
SPOX: Auf YouTube gibt es ein schönes Video, in dem Sie als Trainer eine etwas andere Kabinenansprache halten. Was bedeutet denn "Ich war nicht wie Teppich"?
Kraus: (lacht) Das geht auf eine alte Geschichte aus Hamburger Zeiten zurück. Wir waren mal wieder etwas unterwegs, wurden aber erwischt und von Coach Martin Schwalb zur Rede gestellt. Jetzt gibt es in Polen ein Sprichwort, wenn man etwas zu viel getrunken hat. Bei uns sagt man ja, du bist voll wie eine Natter, in Polen heißt es: Du bist wie Teppich. Also hat unser polnischer Mitspieler Lijewski zum Trainer gesagt: "Ja, wir waren weg, ja, wir waren zu spät, aber wir waren nicht wie Teppich." Schwalbe hat kein Wort verstanden. Und eines ist auch klar: Wir waren natürlich wie Teppich. (lacht)
SPOX: Ernsthaft gefragt, ist eine Trainerkarriere mittlerweile für Sie vorstellbar?
Kraus: Durchaus, ich kann mir vorstellen, einmal Trainer zu werden. Ich möchte dem Handball auf jeden Fall verbunden bleiben, egal ob als Trainer oder vielleicht auch als Scout oder Manager, wenn ich mal nicht mehr selbst auf der Platte stehe. Ich muss sagen, dass es einen in Sachen Verantwortung zu tragen schon auf den richtigen Weg bringt, wenn du eine eigene Familie hast. Ich bin auch davon überzeugt, dass Soft Skills viel wichtiger sind für einen Trainer als Fachkenntnisse, das gilt wahrscheinlich sogar für jede Führungsposition. Ein Erfahrungsschatz ist wichtig, aber vor allem lebenssituativ. Du musst als Trainer spüren, warum ein Spieler gerade blockiert. Deshalb bin ich auch Velimir Petkovic so unglaublich dankbar.
SPOX: Wegen der Zeit nach der WM 2007?
Kraus: Genau, er hat mir nach der WM 2007 Halt gegeben, als ich nicht mehr wusste, wo oben und unten ist. Ich hatte mehrere Monate lang Rückenschmerzen, aber es war alles psychosomatisch. Auch dank der Hilfe von Petko waren die Schmerzen irgendwann von heute auf morgen weg und ich habe wieder gespielt wie neu geboren. Wenn es ein Trainer schafft, eine Mannschaft menschlich zu packen, dann gehen die Spieler für ihn durchs Feuer. Wenn Spieler Vertrauen spüren, wachsen sie über sich hinaus. Wir müssen uns nur das Beispiel von Andy Schmid vor Augen halten. Bevor er Jahr für Jahr zum MVP der Liga wurde, kam er aus Silkeborg zu den Löwen und es lief in den ersten Jahren überhaupt nicht. Dann ging den Löwen das Geld aus, Andy bekam mehr oder wenig aus der Not heraus seine Chance und plötzlich nahm alles seinen Lauf. Jetzt ist sein Selbstbewusstsein so groß, dass es egal ist, aber auch er brauchte die Unterstützung des Trainers, damit er sein unfassbares Potenzial abrufen konnte.
SPOX: Schmid fehlt bei der WM, weil die Schweiz sich nicht qualifizieren konnte, Sie wurden von Bundestrainer Christian Prokop nicht nominiert. Auch wenn es sich abzeichnete und der Mittelhandbruch die Situation verkomplizierte, wie enttäuscht sind Sie mit etwas Abstand?
Kraus: Ich muss sagen, dass sich die Enttäuschung über die Nicht-Nominierung in Grenzen hält. Ich möchte auch ausdrücklich sagen, dass ich mit dem Kader, der nominiert worden ist, sehr gut leben kann und ich vollstes Vertrauen in die Jungs habe. Die werden das schon machen. Allerdings fand ich die Formulierung von Kretzsche im Vorfeld, dass man sich mit mir Risiko ins Team holen würde, sehr fragwürdig und unvorteilhaft für mich, weil es einfach nicht korrekt ist. Was soll es heißen, dass man sich mit mir Risiko ins Team holt? Dass ich eine gewisse Zocker-Mentalität in mir habe, ist klar, aber warum ist das so negativ behaftet?
SPOX: Prokop hat auf der Mitte Martin Strobel nominiert und ihn als Denker und Lenker gelobt. Sie haben nicht das Image des Denkers und Lenkers.
Kraus: Das ist es ja. Aber ich leite seit Jahren alles auf der Mitte. Es war eine unglückliche und für mich fragwürdige Formulierung, weil es einfach überhaupt nicht zutrifft. Werde ich nach Geschichten beurteilt, die zehn Jahre her sind? Wir müssen hoffentlich auch nicht darüber reden, dass ich 35 bin. Die Franzosen nehmen immer ihre alten Säcke noch mit, weil sie Leistung bringen. Alles andere sollte nicht zählen. Es geht ja nicht darum, in sechs Jahren Weltmeister zu werden. Aber die Leute sollen sich selbst ein Bild machen, was Woche für Woche in der Bundesliga gespielt wird, wenn man es neutral betrachtet.