Viele Spieler seien fassungslos gewesen, Welthandballer Daniel Stephan sprach von einem "ziemlichen Risiko", in den sozialen Medien machten zahlreiche Fans ihrem Unmut Luft: Christian Prokop hat bereits vor der EM mit der Nichtnominierung von Fabian Wiede und vor allem von Abwehrchef Finn Lemke für Diskussionen gesorgt.
Stattdessen berief der Bundestrainer mit Maximilian Janke und Bastian Roscheck zwei unerfahrene Spieler von seinem früheren Klub. Prompt gab es unsinnige Verschwörungstheorien, von der "Leipzig-Connection" war zu hören.
"Wir haben uns für 16 Spieler entschieden, nicht gegen vier. Das waren harte Entscheidungen. Wir haben sehr gute Möglichkeiten, um auch im Laufe des Turniers reagieren zu können. Die EM ist lang, so dass wir mehrere Optionen brauchen werden. Bei aller Enttäuschung der aktuell nicht nominierten Spieler ist es wichtig, dass der Teamgedanke im Vordergrund bleibt", sagte Prokop. Und in der Mitteldeutschen Zeitung ergänzte er: "Bei der Auswahl der Nationalspieler geht es einzig und allein um die beste Leistung."
Christian Prokops EM-Kader: Mut oder Risiko?
Der 39-Jährige gehe ein Wagnis ein, sagen die einen. Der DHB-Coach beweise großen Mut, meinen die anderen. Fakt ist: Prokop ist Bundestrainer und muss daher selbstverständlich die alleinige Entscheidungsgewalt haben. Er muss die Spieler mitnehmen, die er für sein von Flexibilität geprägtes System am geeignetsten hält.
Wenn ein reiner Abwehrspieler wie Lemke, der in Polen einer der Garanten für den Titelgewinn war, nicht in Prokops Konzept passt, muss man das so akzeptieren. Ihn schon im Vorfeld für die Zusammenstellung des Kaders zu kritisieren, macht wenig Sinn. Abgerechnet - und das weiß Prokop ganz genau - wird zum Schluss. Er wird sich am nackten Ergebnis messen lassen müssen.
Bislang kann man dem Mann aus Sachsen-Anhalt keine konkreten Vorwürfe machen. Seit seiner Inthronisierung im Februar 2017 hat Deutschland die EM-Qualifikation ohne Niederlage zu Ende gebracht, einen Sieg aus zwei Länderspielen gegen die Handball-Großmacht Spanien geholt und zuletzt beide finalen EM-Tests gegen Island in beeindruckender Manier gewonnen.
Prokop von Beginn an nicht unumstritten
Dass jede unpopuläre Entscheidung zunächst Gegenwind auslösen würde, war ohnehin schon im Vorfeld klar. Schließlich hatte es bereits nach der viel kritisierten, letztlich aber doch erfolgreichen Suche nach einem neuen Bundestrainer skeptische Stimmen gegeben: Prokop fehlt die internationale Erfahrung als Spieler und als Trainer. Bei der EM wird ausgerechnet der Bundestrainer eines der wenigen Mitglieder im DHB-Tross sein, das noch kein einziges großes Turnier miterlebt hat.
Überzeugt davon, dass Prokop die EM gut über die Bühne bringen wird, wäre er nur, wenn er Erfahrungswerte hätte, sagte Weltmeister Christian "Blacky" Schwarzer im Gespräch mit SPOX: "Christian Prokop hat Bundesliga-Erfahrung und dort mit einer jungen Leipziger Mannschaft hervorragende Arbeit geleistet. Eine EM ist aber etwas völlig anderes als Spiele in der Bundesliga. Die Belastungen sind in allen Bereichen viel größer. Deshalb könnte es eine kleine Gefahr darstellen, dass er diese internationalen Events nicht kennt. Allerdings hat er seine Arbeit meiner Meinung nach bisher gut gemacht."
Im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen treffen
Prokop kam im Trikot von GWD Minden und des HC Wuppertal zwar zu Einsätzen in der HBL, allerdings musste er seine Karriere aufgrund von mehreren schweren Verletzungen bereits im Alter von 25 Jahren beenden. Vor allem das kaputte Knie machte mehrere Operationen notwendig, mehr als zehn Jahre lang konnte Prokop nicht einmal joggen.
"Es kommt nicht darauf an, ob ich 100 Länderspiele gemacht habe oder nicht. Es kommt darauf an, ob ich im richtigen Moment die richtige Entscheidung treffen kann", meinte Bob Hanning dazu. Entscheidungen treffen kann Prokop, das hat er bereits bewiesen. Ob sie richtig sind, bleibt abzuwarten.
Für den DHB-Vize und seinen Präsidenten Andreas Michelmann war Prokop jedenfalls von Anfang an "die Wunschlösung". Und die Führungscrew, die nun den Trainer selbstverständlich gegen erste schlechte Kritiken schützt, musste einen langen Atem haben, ehe eine Vollstreckung vermeldet werden konnte.
Prokop: "Gegrübelt, überlegt und nachgedacht"
Es lag nämlich nicht nur am DHB, dass sich die Suche nach einem Nachfolger des nach Japan abgewanderten Dagur Sigurdsson so zäh gestaltete. Auch Prokop selbst hatte seinen Anteil.
Der gebürtige Köthener tat sich mit seinem Entschluss, den SC DHfK Leipzig zu verlassen, extrem schwer. Wochenlang hatte Prokop "gegrübelt, überlegt und nachgedacht", wie er selbst einräumte.
Der Grund: Nach seinen ersten Trainerstationen in Hildesheim, Braunschweig, Hannover-Anderten, Magdeburg II, Schwerin und Essen war Leipzig der Ort, an dem ihm der Durchbruch gelang. Der frühere Rückraumspieler führte die Leipziger in die Bundesliga und etablierte den Klub im Eiltempo im Oberhaus.
Leipzig-Fans versuchen Prokop umzustimmen
Vier Jahre in Sachsen hatten im positivsten Sinne ihre Spuren hinterlassen. Die Mannschaft und die Klub-Verantwortlichen schätzten Prokop sehr. Als sein Wechsel zum DHB erstmals nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, versuchten die Fans ihren Trainer mit allerhand Sympathiebekundungen in Form von Plakaten zum Bleiben zu bewegen. Prokop war davon derart beeindruckt, dass er dem DHB um ein Haar tatsächlich abgesagt hätte.
Letztlich konnte Deutschlands Coach des Jahres 2016 der Gelegenheit, das A-Team des größten Handball-Verbandes der Welt zu trainieren, aber doch nicht widerstehen und unterschrieb einen Vertrag bis 2022, ohne Ausstiegsklausel. Obendrein musste der DHB dem SC DHfK eine Ablösesumme überweisen.
Prokop: Ein detailversessener Analytiker
Man habe nun einen "einen jungen und modernen Trainer, der den Willen zur Entwicklung lebt", schwärmte Hanning. Und dieser Trainer geht ganz offensichtlich zielstrebig seinen Weg, bringt neue Spielideen ein, opfert dafür sogar altbewährtes Personal. Und auch die meisten Nationalspieler, da sollte kein falscher Eindruck entstehen, sind von der Arbeit des Neuen beeindruckt.
Als "sehr akribisch" wird Prokop, der wie schon Sigurdsson auf Co-Trainer Alexander Haase setzt, durch die Bank beschrieben. Ein Grund dafür ist sein familiärer Hintergrund. Prokops Vater war Handballspieler und -trainer, seine Mutter Leistungsturnerin. Von klein auf wurde ihm vorgelebt, wie viel Aufwand nötig ist, um im Sport erfolgreich zu sein.
"Er ist ein richtiger Handball-Lehrer", lobte Torhüter Andreas Wolff seinen Übungsleiter, der trotz seines jungen Alters bereits auf 14 Jahre Trainer-Erfahrung zurückgreifen kann. Prokop setzt unter anderem auf detaillierte Videoanalysen. Ähnlich wie schon unter Sigurdsson müsste die deutsche Nationalmannschaft also auf jeden einzelnen Gegner hervorragend vorbereitet sein.
"Meine Handschrift hat man in Leipzig gesehen und ich erhoffe mir, eine ähnliche Philosophie auch bei der Nationalmannschaft einzubringen", stellte Prokop klar: "Ich möchte, dass wir Werbung für unseren Sport machen, modernen, aggressiven und technisch versierten Handball spielen."
Sigurdsson-Erfolge? "Nur mit harter Arbeit"
Dass Detailversessenheit einer Mannschaft auf die Dauer auf die Nerven gehen kann, weiß Prokop. Der an Heiligabend 1978 zur Welt gekommene zweifache Familienvater, bemüht sich, in seiner Arbeit eine gesunde Balance zwischen hohen Anforderungen und gleichzeitig der nötigen Lockerheit zu finden.
Er sagt aber auch: "Unter Dagur Sigurdsson ist 2016 diese riesige Sensation gelungen. Mit einem jungen Team, das keiner auf der Rechnung hatte. Wenn wir das wiederholen möchten und den deutschen Handball dauerhaft in der Weltspitze etablieren wollen, geht das nur mit harter Arbeit."
Der Mann mit einem abgeschlossenen Masterstudiengang für das Lehramt in Grund-, Haupt- und Realschulen in den Fächern Sport und Wirtschaft ist sich bewusst, dass er in Kroatien liefern muss. Springt nicht wenigstens das Halbfinale heraus, dürfte es schwierig werden, die EM in der Öffentlichkeit als Erfolg zu verkaufen.
Prokop: "Fans mit einem emotionalen Auftritt begeistern"
Die Voraussetzungen, um gut abzuschneiden, sind gegeben. Anders als vor den vergangenen großen Turnieren hat das Verletzungspech die Bad Boys bislang größtenteils verschont, die Qualität im Kader ist entsprechend hoch. Auch in der Breite, was Prokop bei der Nominierung für Überraschungen genutzt hat.
"Wir haben nicht diesen einen Weltstar im Kader, der Spiele im Alleingang entscheiden kann", weiß Prokop. Auf den im Handball alles entscheidenden Positionen ist der DHB lediglich zwischen den Pfosten mit Silvio Heinevetter und Andreas Wolff in der absoluten Weltspitze anzusiedeln, "alles andere müssen wir mannschaftlich regeln."
Daran stört sich der Bundestrainer jedoch nicht: "Ich wäre traurig, wenn wir uns in Egoismen und in Kleingruppen-Arbeit verzetteln würden. Wir wollen die Fans mit einem emotionalen Auftritt begeistern und mit einem Auftritt, der aus einem mannschaftlichen Guss erfolgt."
Dabei kann es nicht schaden, den Geist von Polen auch ohne Ober-Bad-Boy Lemke zu beschwören. Denn Prokop weiß: "Schaffen wir es, diesen Hunger aufrechtzuerhalten, haben wir gute Chancen, ähnliches zu wiederholen."