Handball - Andreas Thiel im Interview: "Wir sind nach jedem Auswärtsspiel blitzeblau aus dem Bus geklettert"

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Sie nennen sich selbst einen konservativen Traditionalisten, wenn es um Handball geht. Wie ist das gemeint?

Thiel: Eines vorneweg: Ich bin ein alter Mann und alles hat seine Zeit. Das weiß ich. Es ist halt heute so, wie es ist. Aber das muss mir deshalb ja nicht gefallen. Ich versuche es mal mit der Geschichte von der Halle in Dutenhofen zu erklären. Da wurden nach dem Spiel die Bierbänke in die Halle geschoben und das war dann der VIP-Raum. Es gab Bratwurst und Handkäs. Und die Stimmung war nach dem Motto: Ja Mensch, du Arschloch. Komm, Prost. Wissen Sie, was ich meine?

Ich denke schon.

Thiel: Das fehlt mir heute. Diese ganze Eventkultur, die wir heute haben, ist nicht mein Ding. Aber sie muss sein. Warum? Weil die Personalkosten so hoch sind und alles refinanziert werden muss. Die Wurzeln und den Kern unseres Spiels darf man aber nicht vergessen. Wir sind immer noch stark auf dem Land. Wir sind stark in der Provinz, in der Kleinstadt. Der Playboy schrieb einmal, Kretzsche hätte den Handball vom Dorftrottel-Image befreit. Mag sein. Aber ich finde, wir sollten das offensiver vertreten. Dann sind wir eben die Dorftrottel, meine Güte. Das sind wir doch auch: In Württemberg, in Niedersachsen, in Ostwestfalen.

Haben Sie also auf eine Veranstaltung wie das CL-Final-Four in Köln keinen Bock?

Thiel: Das Spiel ist geil. Sich ein Handballspiel auf so einem Level anzuschauen, ist klasse. Das ganze Brimborium drum herum brauche ich nicht. Aber die Fans, die die Karten kaufen, wollen das größtenteils. Es ist okay. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass wir im Bereich der HBL die Wurzeln ein bisschen zu wenig beachten.

Die Zeiten im Handball haben sich grundlegend verändert. Wären Sie denn heute noch gerne Profi?

Thiel: Was die Kohle anbetrifft, uneingeschränkt ja. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass Geld ein Teil meiner Motivation war. Das ist leicht verdientes Geld für eine Tätigkeit, die einem Spaß macht. So muss man das sehen. Wenn heute einer sagt: "Ich muss den nächsten Schritt in meiner Karriere gehen, ich will eine neue Sprache lernen." Also ich bitte sie, das ist doch gelogen. Es gibt aber auch einen Grund, warum ich heute kein Profi sein wollte.

Der da wäre?

Thiel: Die Belastung.

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Sie haben also Verständnis dafür, dass heute über den vollen Terminkalender gejammert wird?

Thiel: Das kann ich nachvollziehen. Andererseits sehe ich das pragmatisch. Wenn ich diese deutlich erhöhten Gehälter bei Champions-League-Klubs verdiene, ist das eben so. Wer A sagt muss auch B sagen. Dabei muss man sehen: Es wird kaum noch trainiert, die Jungs haben heute eine deutlich verbesserte medizinische Abteilung. Das Problem ist also nicht so sehr die körperliche Belastung, sondern der Kopf. Man kann sich nicht alle drei Tage in gleicher Weise fokussieren, konzentrieren und motivieren. Die Gefahr ist heute relativ groß, eindimensional zu werden. Die haben ja gar keine Zeit mehr für etwas anderes.

Was meinen Sie genau?

Thiel: Wir waren in dieser Hinsicht privilegiert. Wir haben Geld bekommen und konnten nebenher ein tolles Studentenleben führen. Ich frage mich heute: Was machen die Jungs, wenn die Laufbahn zu Ende ist? Das Leben muss ja auch danach noch Inhalte haben. Jede Generation, die abtreten muss, treffe ich bei irgendwelchen A-Trainerlehrgängen. Die wollen Trainer werden. Dabei wird übersehen, dass es in unserer Branche nicht so viele Möglichkeiten gibt. Es gibt in 1. und 2. Liga insgesamt nur 38 Fleischtöpfe. Und von diesen 38 sind maximal zehn echte Fleischtöpfe.

Bleibt die Möglichkeit, Sportdirektor oder sportlicher Geschäftsführer zu werden.

Thiel: Dass diese Posten bezahlt werden können, ist im Handball nicht unbedingt der Regelfall. Da gibt es oft nur einen Geschäftsführer, der für alles zuständig ist. Und dass man solche Jobs ausüben kann, nur weil man mal einen Ball ins Tor geworfen oder gehalten hat - daran habe ich so meine Zweifel. Ich bin ganz froh, dass es bei mir so gelaufen ist, wie es gelaufen ist. Wenn es auch manchmal mühsam war. Beim ersten Staatsexamen musste ich echt kämpfen, auch wenn ich es im ersten Anlauf bestanden habe.

Sie waren berufstätig als Anwalt und gleichzeitig Profi in Dormagen. Klingt nach ziemlichem Stress.

Thiel: Ich fing 1995 in einer großen Kanzlei an. Und über die Anfangszeit sagt man ja, dass der junge Anwalt Sklave ist. Bis ich mich 1998 selbstständig gemacht habe, war das ein relativ anstrengender Ritt. In der Kanzlei bin ich um 18 Uhr raus und ins Training, was eigentlich schon mal gar nicht geht. Normalerweise geht man in Kanzleien dieser Art erst um 20 oder 21 Uhr nach Hause. Ich hatte Glück, dass mit dem Kanzlei-Senior, dem ich zuarbeitete, die Chemie stimmte. Dem kam es nur darauf an, dass die Arbeit effektiv erledigt wurde.

Hatten Sie mit dem Verein einen Deal ausgehandelt, um alles unter einen Hut zu bekommen?

Thiel: Ich hatte mir durch ein deutlich reduziertes Gehalt gewisse Privilegien erkauft. Morgens musste ich nicht mehr trainieren, an Spieltagen unter der Woche konnte ich in Eigenregie auf Kosten des Vereins anreisen. Wenn wir beispielsweise mittwochs in Kiel spielten, bin ich mittags um 15 Uhr in Köln in den Flieger gestiegen. Und nachts mit den Jungs zurück. Ich kann mich an das Zweitligajahr mit Dormagen erinnern. 1998/99 war das. Damals war ich bereits selbstständig. Wir mussten im Dezember zwei Mal, einmal im Pokal, einmal in der Liga, unter der Woche in Aue im Erzgebirge ran. Ich war morgens um fünf oder sechs Uhr mit dem Bus zu Hause und war um neun Uhr beim Familiengericht im Sitzungssaal. Das war gelegentlich hart, ist aber Jammern auf hohem Niveau.

Andreas Thiel (r.) ist heute als Anwalt und HBL-Justiziar tätig
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Andreas Thiel (r.) ist heute als Anwalt und HBL-Justiziar tätig

Warum?

Thiel: Ich kassierte zwei Gehälter. Ein reduziertes Gehalt als Handballer war nämlich immer noch genug. Nach drei Jahren in der Kanzlei hatte ich fast genug Geld beisammen, um mein Reihenhaus zu bezahlen. Ich konnte jeden Monat ein Gehalt wegpacken. Generell darf man nicht vergessen, dass Leistungssport ein Privileg ist.

Wie sehr hat sich das Spiel an sich verändert?

Thiel: Erheblich. Tempo, Athletik. Handball ist sicherlich viel, viel besser geworden. Viel schneller, viel mehr Tore. Es ist aus meiner Sicht der geilste Mannschaftssport, den es gibt. Duellsituationen Torwart gegen Spieler, eine echte Vollkontaktsportart. Wenn da die Ochsen am Kreis gegeneinander knallen - geil. Das sind deutliche Unterscheide zu unserer Zeit. Aber ich denke, dass diejenigen, die damals gut waren, heute wahrscheinlich auch gut wären. Talent spielt immer noch eine Rolle, die wären anders trainiert worden. Und man hätte nicht so viel gesoffen wie wir damals. (lacht)

Sie sind seit vielen Jahren Abteilungsleiter der Handballabteilung von Bayer Leverkusen und Torwarttrainer der Frauenmannschaft. Stimmt es, dass Sie damals nur Abteilungsleiter wurden, weil Sie bei einer Weihnachtsfeier zu viele Kaltgetränke zu sich genommen hatten?

Thiel: Ja, ich war voll. Dann sagten die Mädels: Mach du das doch. Und ich sagte Ja. Dann stand ich im Wort. Und das Wort zählt. Ich war nämlich nicht unzurechnungsfähig, konnte noch sprechen. Und das macht mir übrigens auch Spaß.

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