Zweite Liga. Das erste Mal seit 1981. Die Laune bei Holstein Kiel war Ende Juli auf dem Höhepunkt. Zumindest auf dem Höhepunkt der letzten Jahre. Der SV Sandhausen war zu Gast und die Störche endlich wieder zweitklassig. Doch die Euphorie war schnell gedämpft, die Gäste lagen bereits nach 35 Minuten mit 2:0 in Führung. Es war ein doppelter Warnschuss, dass in der neuen Liga ein anderer Wind weht. Pessimisten ahnten bereits Schlimmes.
Doch auch dieser Pessimismus war nicht von langer Dauer. In der 75. Minute durften die Fans das erste Zweitligator seit über drei Jahrzehnten bejubeln. "Wir gehen mit viel Überzeugung und Mut, aber auch mit Respekt in unsere Spiele. Es geht für uns nie darum rauszugehen, um etwas zu verhindern, sondern darum rauszugehen, um etwas zu gewinnen", erklärte Cheftrainer Markus Anfang im Interview mit Goal. Diese Einstellung zeigte sein Team bereits beim Auftakt gegen Sandhausen. Entgegen aller Widerstände. Geringer Etat, früher Rückstand.
In der fünften Minute der Nachspielzeit legte sich Marvin Ducksch den Ball zum Freistoß zurecht. Nun trat der Stürmer zur letzten Aktion des Spiels an, schlenzte den Freistoß aus 25 Metern zum 2:2-Ausgleich ins Tor und brachte das Holstein-Stadion zum Beben.
Was folgte, ist ein bemerkenswerter Höhenflug der Kieler und der Durchbruch von Marvin Ducksch im deutschen Profifußball. Am kommenden Samstag empfängt Kiel Fortuna Düsseldorf (ab 13 Uhr im LIVETICKER) und kann mit einem Sieg Herbstmeister werden.
Der Beginn einer Heldengeschichte, die Erinnerungen weckt. Erinnerungen an den Durchmarsch von Darmstadt 98.
Kiel ist nicht Darmstadt
Im Oktober trafen Holstein und Darmstadt erstmals seit 2014 wieder in derselben Liga aufeinander. Seitdem ist viel passiert. Kiel sicherte sich damals den Klassenerhalt in der 3. Liga, während Darmstadt wenige Wochen später in die 2. Bundesliga aufstieg. 2017 sind beide Klubs Zweitligisten, die Lilien als Absteiger aus Liga eins, die Störche als Aufsteiger aus Liga drei.
Viele Fußballfans verfolgten die Aufstiegsgeschichte der Darmstädter mit Freude. Dem Klub mit einer Handvoll ehemaliger Bundesligaprofis und einem Stadion, das von außen weder das Flair eines Baumarktes hat noch "Arena" heißt. Dem SVD gelang dieser Durchmarsch von der 3. in die Bundesliga.
Es ist nur logisch, dass dieser Vergleich in den vergangenen Wochen immer wieder bemüht wurde. Doch es gibt auch deutliche Unterschiede zwischen den Projekten.
Der sportliche Erfolg brach seinerzeit weitgehend unverhofft über Darmstadt herein, der Klub war weder strukturell noch finanziell auf ein Dasein im höheren Profifußball ausgerichtet oder gar eingestellt.
Holstein Kiel richtet Strategie auf langfristigen Erfolg aus
In der nördlichsten Großstadt Deutschlands gab es dagegen spätestens seit 2009 langfristig ausgerichtete Bestrebungen, Holstein von der vierten in die zweite Liga zu bringen. Doch das Projekt mit Falko Götz als Cheftrainer sorgte nicht für den erhofften Erfolg.
2012 schaffte es der Klub ins Viertelfinale des DFB-Pokals, ein Jahr später klappte es mit dem Aufstieg in die 3. Liga. Der Verein wurde mit Geduld, Ruhe und einem Plan dorthin geführt, wo er aktuell steht. Das Phänomen Kiel ist auf Langfristigkeit ausgelegt, der Verein ist organisch gewachsen - auch im Sommer nach dem ersten Zweitligaaufstieg seit 36 Jahren verzichtete man auf einen großen Umbruch.
Dabei hat der Kader eine gute Mischung. Spieler wie Rafael Czichos, Kenneth Kronholm oder Patrick Herrmann sind seit Jahren im Verein und mit ihm gewachsen. Darüber hinaus ist die Mannschaft aber auch gespickt mit Spielern, die bereits Bundesliga-Erfahrung auf der Autogrammkarte stehen haben - wie Lukas Kruse, David Kinsombi, Johannes van den Bergh und eben Mittelstürmer Marvin Ducksch.
Die Leihgabe vom FC St. Pauli war zum Ende der letzten Saison zum Helden geworden, als er mit seinem Siegtreffer gegen Großaspach den Kieler Aufstieg perfekt gemacht hatte. Und seine Erfolgsgeschichte geht in der 2. Liga einfach weiter. Für ihn ist es ein Durchbruch im dritten Anlauf.
Lewandowski, Aubameyang, Ducksch
Ausgebildet wurde Ducksch bei Borussia Dortmund. Dort durchlief er alle Juniorenabteilungen und erzielte in insgesamt 153 Spielen für die U17, U19 sowie für die Amateure 100 Tore, ehe er in der Saison 2013/14 zum Profikader stieß. Der BVB hatte gerade Pierre-Emerick Aubameyang verpflichtet, der künftig mit Robert Lewandowski und Marco Reus die Offensive bilden sollte. Als Nachwuchshoffnung nahm Jürgen Klopp den damals 19-Jährigen in den Kader auf.
In der ersten Pokalrunde wurde er eingewechselt und erzielte gleich einen Treffer und bereitete einen weiteren vor. Am sechsten Spieltag lief er sogar über 90 Minuten in der Bundesliga auf.
"Ich habe von Klopp viel mit auf den Weg bekommen, wie ich leben und mich verhalten soll. Das hat mir wahnsinnig geholfen", sagte Ducksch kürzlich in einem Interview mit der Bild.
Doch die Konkurrenz beim BVB war für den Youngster zu groß. Dem guten Start folgte eine Saison mit fünf weiteren Kurzeinsätzen ohne Tor. Den Großteil der Spielzeit verbrachte er bei der zweiten Mannschaft. Ein Umweg über ein Leihgeschäft musste her.
Über Umwege zum Erfolg
Zur Saison 2014/15 spielte Ducksch beim SC Paderborn. Doch auch dort schaffte er aufgrund eines Mittelfußbruchs den Durchbruch nicht.
Zurück in Dortmund, hatte er große Probleme mit dem neuen Coach Thomas Tuchel, der ihn aus dem Profikader strich. Also musste Ducksch wieder für die zweite Mannschaft auflaufen. "Ich habe nie ein Gespräch mit Tuchel gehabt", zeigte sich Ducksch später über seine letzte Saison in schwarz-gelb enttäuscht.
Also wechselte der Stürmer 2016 zum FC St. Pauli. Nächste Station, nächste Enttäuschung. Erneut konnte er die Verantwortlichen nur mäßig von seinen Qualitäten als Torjäger überzeugen.
Doch dann machte er den goldenen Schritt. Für die Rückrunde ging er per Leihe zu Holstein Kiel, wo er in der heißen Phase der Saison dann so richtig aufdrehte und in den letzten fünf Partien vier Tore erzielte und zwei Assists verbuchte - und damit einer der Aufstiegshelden war.
Was bringt die Zukunft?
Der Kieler Höhenflug hängt auch mit der Entwicklung von Marvin Ducksch zusammen. Der 23-Jährige hat einen Verein gefunden, bei dem er sich hundertprozentig wohl fühlt und lässt derzeit Tore für sich sprechen.
Wo Ducksch in der nächsten Saison spielt, ist jedoch offen. St. Pauli wird alles daran setzen, ihn zurückzuholen - und sei es nur aus dem Grund, um ihn bei einem lukrativen Angebot zu verkaufen. Kiel wird sich eine Verpflichtung wohl nur leisten können, wenn sie tatsächlich in die erste Bundesliga aufsteigen.
Wie auch immer die Zukunft aussieht, aktuell sind sowohl Holstein Kiel als auch Marvin Ducksch endlich angekommen im deutschen Profifußball.