Leon Goretzka fühlt sich in ein "anderes Jahrtausend" zurückversetzt, der "fassungslose" DFB-Chef sieht die FIFA in der Pflicht, die aufgeschreckte Politik pocht auf "Sicherheitsgarantien": Kurz vor dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar (20. November bis 18. Dezember) hat die Welle der Entrüstung nach den homophoben Aussagen des WM-Botschafters einen neuen Scheitelpunkt erreicht.
"Das ist schon sehr beklemmend. Das ist ein Menschenbild aus einem anderen Jahrtausend", kommentierte Nationalspieler Goretzka die Aussage des katarischen WM-Botschafters Khalid Salman, der Homosexualität in einer ZDF-Doku als "geistigen Schaden" bezeichnet hatte. Am Mittwoch behauptete er via Twitter, seine Aussage sei "aus dem Zusammenhang gerissen" worden - um im selben Tweet anzumerken, dass sich "unsere Religion und Kultur durch die Weltmeisterschaft nicht ändern" würden.
"Das ist nicht das, wofür wir stehen wollen und was wir vorleben", äußerte Goretzka nach dem Bundesligaspiel von Bayern München gegen Werder Bremen (6:1). Manuel Neuer will nicht ausschließen, dass auch die Nationalmannschaft noch einmal auf die verschärfte Lage als Folge der Äußerung reagiert. "Das passt keineswegs in unser Weltbild. Es ist traurig, so etwas zu hören", sagte der DFB-Kapitän am Mittwoch: "Über solche Situationen muss man sich Gedanken machen, das müssen wir intern beim DFB mit den Spielerkollegen besprechen."
Wie Neuer und Goretzka bezeichnete auch Hasan Salihamidzic die Äußerung als "inakzeptabel", der Frage nach Auswirkungen auf den Bayern-Vertrag mit Qatar Airways wich der Münchner Sportvorstand aber aus: "Da muss man drüber reden, klar, aber das ist jetzt erstmal eine einzelne Person."
Neuendorf: "Völlig indiskutabel und macht uns fassungslos"
Deutlicher wurde Alexander Wehrle. Der Vorstandsboss des VfB Stuttgart, der sich längst zu seiner Homosexualität bekannt hat, will als Reaktion "nicht einfach zur Tagesordnung" übergehen. "Eine sexuelle Orientierung mit einer Geisteskrankheit gleichzusetzen - das ist weit weg von jeder Vorstellung, die wir in unserem kulturellen Kreis haben", sagte Wehrle bei Sky: "Hier muss einfach Klartext gesprochen werden."
Das tat Bernd Neuendorf. "Die Entgleisung des WM-Botschafters ist völlig indiskutabel und macht uns fassungslos", sagte der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) der Bild - und sieht den Weltverband am Zug: "Aus unserer Sicht sollte die FIFA ernsthaft prüfen, ob sich hiermit nicht die Ethikkommission befassen muss."
Dass von der wieder einmal auf Tauchstation gegangenen FIFA wirklich etwas Sinnvolles zu erwarten ist, glaubt allerdings kaum jemand. "Das ist eine absolute Katastrophe für den Sport", kommentierte Philip Krämer als stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen die Salman-Aussage: "Sie konterkariert die eigenen Vorgaben der FIFA."
Die Sicherheitsgarantien für alle WM-Besucher, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) aus Katar mitgebracht hatte, bezeichnete Krämer als das "absolute Minimum". Faeser sieht zwar "keine Anzeichen" für Änderungen an der Garantie - doch daran herrschen mit Blick auf Katar, wo Homosexualität unter Strafe steht, große Zweifel.
"Die Aussage passt ja leider zur Gesetzgebung. Zuletzt wurde versucht, es als sicher schönzureden", äußerte Fanvertreterin Helen Breit von "Unsere Kurve": "Wir haben eine vollständige Garantie für Sicherheit gefordert, die ist immer noch nicht da."
Auf die Einhaltung dieser Garantie pocht jedoch die Bundesregierung. Sie sei "wichtig und unerlässlich" sagte Justizminister Marco Buschmann (DFB) im ZDF: "Homosexualität ist keine Krankheit. Wer die Welt zu einem Sportfest einlädt, der sollte dies längst eingesehen haben."
Wenn es nach Thomas Hitzlsperger geht, werden die Salman-Aussagen im besten Fall durch einen Spieler ad absurdum geführt. Laut dem früheren Nationalspieler könnten sich Profis durch die Äußerungen "sowohl eingeschüchtert oder auch zu einem Coming-Out herausgefordert fühlen". Der offen homosexuell lebende Hitzlsperger würde ein Coming-Out während der WM begrüßen. "Ich fände es toll, wenn es einer machen würde."