WM

Siegenthaler kritisiert Brasiliens Spiel

Von Adrian Bohrdt
Urs Siegenthaler (r.) ist seit zehn Jahren für Jogi Löw und den DFB tätig
© getty

DFB-Chefscout Urs Siegenthaler hat in einem Interview mit der "Frankfurter Rundschau" Brasiliens Hang zu taktischen Fouls entschieden kritisiert und dies bereits bei der FIFA angesprochen. Der Schweizer warnte außerdem vor zu europäischer Spielweise bei der WM im Sommer und erwartet taktische Änderungen. Lob gab es für Cristiano Ronaldo.

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Beim Confed Cup hatte Brasilien bereits stark mit taktischen Fouls gearbeitet, um den gegnerischen Spielfluss zu unterbinden. Für Siegenthaler eine Unart: "Ich habe das eigens bei der FIFA angesprochen. Wenn die Schiedsrichter da nicht durchgreifen, dann ist der Pokal vergeben. Beim Confed Cup wurden bis zu 90 Prozent der gegnerischen Gegenstöße von den Brasilianern durch taktische Fouls unterbunden."

Damit sei eine Kontermannschaft aller Waffen beraubt: "Das muss im Schiedsrichter-Board der FIFA angesprochen werden, denn es gehört natürlich auch Mut dazu, vor 80 000 Zuschauern einem brasilianischen Spieler wegen zwei taktischen Fouls Gelb-Rot zu zeigen."

Siegenthaler: Europäer müssen sich anpassen

Gleichzeitig müssten sich aber auch die europäischen Mannschaften in ihrer Spielweise anpassen, um in Südamerika bestehen zu können, und dürfen sich nicht nur auf den in Europa erfolgreichen Stil verlassen. "Bei 43, 44 Grad in der Sonne, wenn mittags um eins angepfiffen wird, müssen selbst die physisch bestens vorbereiteten Spieler mit ihren Kräften haushalten", so der Scout.

Deshalb rät er von sturem Ballbesitz ab: "Ballbesitz heißt ja auch, dass Sie agieren müssen. Wenn es dann so käme wie beim Handball, dass die Mannschaft im Ballbesitz nur vor einer Abwehr hin und her liefe, dann kann es das nicht sein. Agieren heißt Bewegung, und Bewegung kostet Kraft. Deshalb denke ich, dass Mannschaften nicht gut beraten wären, sich vor allem daran zu halten, große Ballbesitzzeiten zu erspielen."

Der 66-Jährige befürwortet dennoch die spielerische Lösung mit der falschen Neun. "Bei manchen Teams stehen dort hinten Prügelknaben drin, die den Ball postwendend wieder 40 Meter nach vorn köpfen", so Siegenthaler: "Da laufen die Stürmer gegen eine Wand. Wir müssen eine Antwort finden. Einige Mannschaften werden sich hinten reinstellen, davon bin ich überzeugt. Mit kleinen, wendigen, flinken Stürmern macht man den Innenverteidigern die Arbeit jedenfalls ungleich schwieriger."

"Erhebliche Gefahr" durch frühes Pressing

Vom in Europa gerne praktizierten aggressiven, hohen Pressing rät der Schweizer spätestens ab dem Viertelfinale dagegen ab: "Gute Teams lösen sich aus solchen Situationen auch unter Druck. Ich sehe eine erhebliche Gefahr, mit sieben, acht Spielern ständig sehr früh anzugreifen: Dann kann es schnell passieren, dass in die andere Richtung die Post abgeht und man hinten zu offen steht."

Deutschland müsse sich somit taktische Varianten überlegen und von der Idee, Gegner auf diesem Niveau zu erdrücken, Abstand nehmen. Stattdessen könnte Brasiliens taktische Ausrichtung der richtige Ansatz sein: "Hinten eine Vierer-Abwehr, vorne vier Stürmer und zwei Mann im Mittelfeld - so ähnlich wie früher im Feldhandball. Das könnte eventuell die Spielweise dieses Turniers werden."

Zum Abschluss verteilte der Scout noch ein individuelles Lob an Cristiano Ronaldo vom deutschen Gruppengegner Portugal: "Im Gegensatz zu vielen Stars hat er noch Fortschritte gemacht. Wie er sich im Schatten der Abwehrspieler versteckt und dann Tempo aufnimmt - brillant. Er ist nicht viermal dabei beim Kontern, er ist 15 Mal dabei. Er bekommt nicht jedes Mal den Ball. Aber er läuft. Und Aktion löst eine Reaktion aus. Der Gegner wird verwirrt."

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