Fabio Capello sei Dank! Nach der beeindruckenden Qualifikation (10 Spiele, 9 Siege) galt England plötzlich als Mitfavorit auf den WM-Titel. Der Boulevard feierte den Trainer als neuen Heilsbringer für die "Golden Generation", der den hoch veranlagten Solisten endlich Mannschaftsgeist, Siegermentalität und Disziplin beibringen würde.
Kaum vier Wochen später ist Capello nur mehr ein "20-Millionen-Euro-Irrtum", die 1:4-Pleite im Achtelfinale gegen Deutschland hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Einer der erfolgreichsten Trainer Europas wird in bissigen Schlagzeilen als altbackener Trottel porträtiert, der den Anschluss an die moderne Fußballwelt verpasst hat. Fast alle großen Tabloids fordern seinen Kopf.
Die Haupt-Anklagepunkte lauten: Sein starres 4-4-2 sei nicht mehr zeitgemäß, sein Disziplin-Faible und seine Kompromisslosigkeit lähme die Mannschaft, er setze die Spieler auf den falschen Positionen ein. "Als wir in der Quali überzeugend spielten, tauchten diese Fragen nicht auf. Wir spielen immer das gleiche System, es hat sich seit damals nicht im Geringsten verändert", verteidigt sich der Italiener trotzig.
Verband entscheidet über Capellos Zukunft
Sein Argument ist nachvollziehbar, es sagt allerdings mehr über die Spielweise der Medien als über die seiner Mannschaft aus. Denn es lässt die Frage offen: Haben die Ergebnisse der Qualifikation nur strukturelle Probleme zwischen Mannschaft und Trainer verdeckt? Oder funktioniert die Arbeitsgemeinschaft grundsätzlich gut und die WM-Kampagne war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände? Die endgültige Antwort wird am Ende die FA geben müssen: Der englische Verband wird nach Rücksprache mit den Beteiligten über die Zukunft des Teammanagers entscheiden. Er hat sich dafür allerdings zwei Wochen Bedenkzeit erbeten.
Die meisten Experten gehen dabei von einer Trennung aus. Denn gerade in den Wochen vor und während des Turniers hat Capellos Image erheblich gelitten - zum Teil machte sich der 64-Jährige auch selbst angreifbar. Ende Mai etwa wurde sein "Capello Index" zum mittleren PR-Desaster, als die FA ihm verbieten musste, die eigenen Spieler während der WM auf einer kommerziellen Website öffentlich zu benoten.
Seine Mannschaft erst zwei Stunden vor Anpfiff über die Aufstellung zu informieren, wurde ihm außerdem ebenso als eitle Marotte ausgelegt wie die Ausbootung von Theo Walcott aus disziplinarischen Gründen. Der Youngster war ein wichtiger Faktor in der Qualifikation, flog aber kurzfristig aus dem Kader, angeblich weil er taktische Anweisungen wiederholt missachtet hatte. Und prompt lahmte die rechte Seite der Engländer, Walcott wurde phasenweise schmerzlich vermisst.
Die Godene Generation verliert die Nerven
Und schließlich hatte Capello gleich beim Auftakt gegen die USA ein ziemlich unglückliches Händchen und lag - im Nachhinein betrachtet - bei praktisch allen offenen Personalien daneben: Die frisch gekürte Nummer eins Robert Green patzte, die angeschlagenen Ledley King und James Milner spielten und mussten wieder ausgewechselt werden, und vor allem: Obwohl 50 Millionen Engländer schon vorher wussten, dass es nicht funktionieren konnte, stellte er Steven Gerrard und Frank Lampard zusammen ins defensive Mittelfeld.
Die Sache ging schief - und das Unglück nahm seinen Lauf. England büßte nicht nur zwei Punkte ein sondern auf einen Schlag auch jegliches Selbstvertrauen. Wieder einmal verlor die Goldene Generation die Nerven, wie ein überspannter Stadtneurotiker fiel die Mannschaft unmittelbar in alte Verhaltensmuster zurück: viel zu wenig Tempo, viel zu viele lange Bälle.
Frank Lampard: Sinnbild der Verunsicherung
Schon im zweiten Spiel gegen Algerien stand Capellos Mannschaft damit zum ersten Mal in dessen Amtszeit ernsthaft und Druck - und bekam prompt weiche Knie. Sinnbildlich für die totale Verunsicherung stand dabei wieder einmal Frank Lampard. Der Chelsea-Star muss schon seit der enttäuschenden WM 2006 immer wieder als Sündenbock für eine gesamte Generation talentierter Fußballer herhalten: Auf den 32-Jährigen projizieren die Fans der Three Lions ihre größten Hoffnungen, an ihm reagieren sie auch ihren Frust ab.
Und einmal mehr verkrampfte Lampard, wollte den persönlichen Erfolg erzwingen, suchte viel zu früh den gegnerischen Strafraum, um zu Torchancen zu kommen, vernachlässigte dabei allerdings die Defensivaufgaben - und vor allem: die ordnende Rolle im Spielaufbau der Engländer.
Während der peinlichen Nullnummer gegen Algerien wirkte freilich die gesamte Mannschaft kopflos und planlos - und die englische Presse erhöhte den Druck auf Capello: Warum versteckt er die Qualitäten von Steven Gerrard im linken Mittelfeld, warum darf Joe Cole nicht spielen, warum lässt er Wayne Rooney nicht, wie im Verein, als einzige Spitze auflaufen, was hat Stürmer Emile Heskey überhaupt bei einer WM verloren - geschweige denn in Englands Startelf?
John Terrys denkwürdiger Alleingang
In dieser angespannten Situation wurde dann auch noch John Terry vom Glauben überwältigt, er sei der einzige "geborene Anführer". Der Abwehrspieler vom FC Chelsea war im Frühjahr als Kapitän abgesetzt worden, nachdem eine Affäre mit der Ex-Freundin des Teamkollegen Wayne Bridge öffentlich wurde. Auf einer denkwürdigen Pressekonferenz erklärte er nun jedoch, er sei auch ohne Binde noch der "100prozentige Leader", als solcher werde er sich nun auch mal Capello zur Brust nehmen und überhaupt müsste sein Kumpel Joe Cole endlich in die Startelf.
Capello selbst reagierte erstaunlich gelassen, dafür distanzierten sich Teile der Mannschaft von Terry. Immerhin hatte der 29-Jährige mit seiner Silberrücken-Geste nicht nur die Autorität des Trainer angetastet, sondern en passant auch die Führungsqualitäten des neuen Kapitäns Steven Gerrard ebenso in Frage gestellt, wie die Leistungen jener Teamkollegen, die anstelle von Cole zum Einsatz kamen. Die loyalen Empfindungen einiger Kollegen gegenüber Wayne Bridge, der nach dem "Sex-Skandal" seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärte, taten ihr Übriges - und schon war die nächste englische Führungsfigur demontiert.
Wayne Rooney komplettiert das Bild
Übrig blieb Wayne Rooney. Der ManUtd-Star sollte der neue Topstar werden, die WM in Südafrika sein Turnier. Doch der 24-Jährige hatte seine stärkste Szene, als er sich nach dem Algerien-Spiel via Live-Kamera mit den eigenen Fans anlegte. Auf dem Spielfeld aber fehlten ihm Kraft und Form. Seit dem unglückseligen Zweikampf mit Mario Gomez im Champions-League-Viertelfinale gegen die Bayern plagt sich Rooney mit Schmerzen im Sprunggelenk, hat seither keinen einzigen Treffer mehr erzielt.
Aus der Verletzung kann man dem immerhin ehrgeizigen und engagierten Angreifer nun sicher keinen Vorwurf machen.Allerdings spielte auch er zeitweise auf eigene Rechnung, suchte etwas übermotiviert aus 30 Metern den Abschluss anstatt des besser postierten Mitspielers und trug damit auch nicht dazu bei, den Krampf im englischen Spiel zu lösen.
Unfreiwillig komplettierte er damit das Bild, das die englischen Führungsfiguren während der Weltmeisterschaft in Südafrika abgaben. Capello, Lampard, Gerrard, Rooney: eine Achse von vermeintlichen Weltklasse-Leuten, die offenbar zur falschen Zeit am falschen Ort waren - und dort vor allem mit sich selbst beschäftigt.