Vorsprung durch Stresstests

Von Stefan Rommel
Thomas Tuchel trainiert mit Mainz 05 nach dem differentiellen Lern-Ansatz
© Imago

Die Bundesliga ist mitten in der heißen Phase der Saisonvorbereitung. In den Trainingslagern wurden die Grundlagen für eine lange Saison gelegt. Auch im Amateurfußball bereiten sich die Klubs bis hinunter zur Kreisklasse auf die neue Spielzeit vor. Die spannende Frage: Wie trainiert man richtig? Wie hat sich die Methodik in den letzten Jahren entwickelt? SPOX geht der Frage der Trainingsmethodik theoretisch und in Selbstversuchen auf den Grund. Teil 4: Technik.

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Wer wissen will, wie rasant sich der Fußball verändert, dem genügt ein Blick auf ein paar recht beeindruckende Werte: Als die deutsche Nationalmannschaft beim Confed Cup 2005 einen ersten Hauch von neuer Spielkultur versprühte, notierten die fleißigen Helferlein von Jürgen Buschmann allerhand Zahlen, Statistiken, Daten.

Die Abteilung Spiel-Scouting beim DFB steckte noch in den Kinderschuhen, Buschmann, im Hauptberuf Sportpädagoge an der Sporthochschule Köln, und sein Team von rund 50 Mitarbeitern lieferten dennoch schon unzählige Werte. Im Rückblick betrachtet war einer ganz besonders prägnant - weil er mit einer auffällig kurzen Halbwertszeit gesegnet war.

Quantensprung in der Ballkontaktzeit

Es geht dabei um die so genannten Ballkontaktzeiten, also die Spanne zwischen Ballannahme und Abspiel eines einzelnen Spielers. 2,8 Sekunden ermittelten die Späher im Schnitt. Kein absolutes Weltklasse-Niveau, aber ein guter Wert - für damalige Verhältnisse.

Nur fünf Jahre später, bei der WM 2010 in Südafrika, schaffte die deutsche Mannschaft verglichen damit aber einen Quantensprung: Lediglich 1,1 Sekunden verweilte ein Spieler am Ball. In den Spielen gegen England und Argentinien lag der Wert sogar bei 0,9 Sekunden. Nur eine Mannschaft war im Durchschnitt besser: Weltmeister Spanien mit 1,0 Sekunden.

Fußball gilt als das einfachste Spiel der Welt, seine Regeln sind im Grunde simpel zu verstehen. Das Anforderungsprofil an jeden einzelnen Feldspieler aber könnte schwieriger kaum sein: Weil rund 90 Prozent aller Ballkontakte mit Füßen oder Beinen abgewickelt werden.

Es geht mehr als bei jedem anderen Ball- oder Rückschlagspiel um die Minimierung des Faktors Zufall, der je nach Ligenzugehörigkeit von oben (Bundesliga) bis ganz unten (Hobby-Liga) zunimmt. Der Schlüssel dazu liegt in der technischen Ausbildung der Spieler.

Raum und Zeit das knappste Gut

Als Günter Netzer oder Johan Cruyff die Spielfelder ihrer Zeit beherrschten, waren die Parameter Raum und Zeit noch zu vernachlässigende Größen. Ihre Ballkontaktzeiten wären im zweistelligen Sekundenbereich gelegen, hätte sich jemand die Mühe gemacht und sie analysiert.

Heute sind Raum und Zeit das knappste Gut des Fußballers, gepaart mit einer um ein Vielfaches erhöhten Spielgeschwindigkeit und einem aggressiven Gegnerdruck ergeben sie ein komplexes Geflecht an Problemstellungen, aus denen es nur einen Ausweg gibt: die technische Fertigkeit am und mit dem Ball.

Aber wie sieht modernes Techniktraining aus? Es gibt viele Herangehensweisen an die Frage aller Fragen. Eine noch junge, aber von vielen Bundesligisten und teilweise auch der Nationalmannschaft umgesetzte Strategie ist der "differential learning approach", das differentielle Lernen und Lehren.

Bewusst gestreute Bewegungsdifferenzen und Bewegungsfehler

Im Wissenschafts-Deutsch lautet eine Definition: "Die Offenheit, Dynamik und Komplexität des Systems Mensch für das Erlernen von Bewegungsmustern wird genutzt, um durch eine Vielzahl von Übungsdifferenzen (vielfältige Varianten eines Bewegungsablaufs) einen selbstorganisierenden Prozess auszulösen und das Finden des eigenen Bewegungsoptimum zu ermöglichen, ohne ein fremdes Vorbild kopieren zu müssen."

Oder vereinfacht: Selbst die einfachste Übung - zum Beispiel die Ballkontrolle nach einem flachen, wenig druckvollen Zuspiel - wird nicht mehr bis zum Erbrechen in ein- und derselben Variante hundertfach wiederholt. Es gibt keine generalisierten Programme, die durch ständiges Üben eingeschliffen werden können. Vielmehr sollen bewusst gestreute Bewegungsdifferenzen und Bewegungsfehler das motorische Lernen ermöglichen.

Die Grundidee dahinter ist einleuchtend: Kein Spieler führt exakt dieselbe Aktion zweimal aus. Er hat immer mit äußeren Umständen und Störungen zu kämpfen, die er nur schwer oder gar nicht beeinflussen kann. Mit dem Gegner, dem Rasen, dem Wetter, seiner eigenen Bewegungsausführung. Selbst die Standardsituationen sind im Fußball gar nicht so standardisiert.

Zwei gleiche Freistöße? Drei Millionen Wiederholungen

Ein Freiwurf beim Basketball läuft immer nach demselben Muster ab. Der Spieler wird in seiner Aktion nicht abgelenkt durch widrige Witterungsverhältnisse, er muss sich nicht an die Beschaffenheit des Bodens anpassen, er muss den Ball zwar präzise, aber ohne die Variable Druck bzw. Schärfe abfeuern - er hat keinen Gegner mehr zwischen sich und dem Korb.

Selbst die größte Standardchance, die der Fußball bietet, ist da bedeutend schwerer auszuführen und obliegt mehreren Faktoren. Sogar die Massenunwucht eines Balles nahe des Ventils ändert dessen Flugbahn. Aus einem harmlosen Spannstoß kann unter bestimmten Voraussetzungen ein unangenehmer Flatterball werden.

Oder das Stollendesign: Der Winkel des Standbeins und der Druck des ausschwingenden Beines variieren je nach Rasenbeschaffenheit und Standfestigkeit, je nach Noppen bei stumpfem Belag oder Stollen bei nassen Witterungsverhältnissen. Um einen Freistoß aus 20 Metern zweimal exakt gleich zu versenken, bedarf es rund drei Millionen Wiederholungen...

Seite 2: So trainieren die Bundesligisten

Seite 3: Übungen zur besseren Ballkontrolle

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