Der Mann, der von den Fans von Manchester United zum wichtigsten Spieler ihres Vereins des vergangenen Jahrhunderts gewählt und 2005 zum bis dato besten Premier-League-Spieler überhaupt bestimmt wurde; der Mann, über den sein Biograf Philippe Auclair mal sagte, er habe "den englischen Fußball stärker geprägt als irgendein anderer Spieler im modernen Zeitalter", war eigentlich nur nebenbei Fußballer. "Eric Daniel Pierre Cantona ist ein französischer Schauspieler und ehemaliger Fußballspieler", heißt es auf Wikipedia. Vorrangig Schauspieler, außerdem Fußballspieler.
Im Frühling 1997 war es, als Cantona seine Karriere beendete, zumindest die erste. "Fußball hat für mich an Reiz verloren. Ich war noch gut und fit, aber es hat mich gelangweilt", sagte Cantona später dem Guardian. 31 Jahre war er zum Zeitpunkt seines Karriereendes alt und keiner konnte es fassen, schon gar nicht sein Trainer Sir Alex Ferguson, der seinem Ex-Spieler dann bald einen Brief schrieb: "Als die Vorbereitung auf die neue Saison begann, habe ich täglich darauf gewartet, dass du wiederkommst."
Aber er kam nicht wieder. Ferguson und der Fußball hatten Cantona verloren - an die Schauspielerei.
Er hat neu angefangen, ganz unten. Mittlerweile ist der 51-Jährige wieder ein gestandener Spieler, kein Fußballspieler, sondern ein Schauspieler. "Jetzt bin ich als Schauspieler soweit, wie ich als Fußballspieler zwischen 26 und 30 war", sagte Cantona 2012. In der Blütezeit seiner Schaffenskraft. In fast 30 Filmen hat er schon mitgespielt, begonnen hat seine Schauspiel-Karriere aber nicht erst mit dem Ende seiner Fußball-Karriere. Es war ein fließender Übergang.
Fischkutter statt Möwe
"Le bonheur est dans le pre" hieß der erste namhafte Film, in dem Cantona mitspielte. 1995. In einem Jahr, das alles veränderte. 28 war Cantona damals und ebenfalls in der Blütezeit seiner Schaffenskraft - als Fußballer. "Es war ein Drama, und ich war ein Schauspieler", sagte er später über ein Ereignis in diesem Jahr und er meinte nicht den Film, sondern einen Kung-Fu-Tritt, seinen Kung-Fu-Tritt.
Während eines Ligaspiels im Selhurst Park von Crystal Palace hörte sich Cantona von den Rängen beleidigt, nachdem er die Rote Karte gesehen hatte. Er ging auf den Absender der Schimpfwörter zu, streckte ihn mit einem Kung-Fu-Tritt nieder und bereute es nie. Ganz im Gegenteil: "Ich hätte ihn härter treten sollen." Cantona, der Grenzgänger.
Kryptisch beendete er bei der folgenden Pressekonferenz seine Stellungnahme zu diesem Eklat: "Die Möwen folgen dem Fischkutter, weil sie denken, dass Sardinen ins Meer geworfen werden."
Cantona entkam nur knapp einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe, stattdessen musste er 120 Stunden Sozialarbeit leisten und wurde acht Monate lang für alle Pflichtspiele gesperrt.
Literatur statt Gameboys
Wirklich getroffen hat ihn das wohl nicht. Cantona war ein herausragender Fußballer, ein brandgefährlicher Stürmer, aber er war schon immer mehr als das. Als seine Vorbilder nannte er mal Diego Armando Maradona und Johan Cruyff genau wie Pablo Picasso, Jim Morrisson und Wolfgang Amadeus Mozart. Cantonas Horizont endete nicht an der Seitenauslinie. Und überhaupt: Cantona wusste eh nie, ob der Fußball wirklich das Richtige für ihn sei.
Nach Stationen bei AJ Auxerre, Olympique Marseille, Girondins Bordeaux, HSC Montpellier und Nimes Olympique hatte Frankreich genug von Cantona. Und Cantona von Frankreich auch. In seiner Heimat mit allem und jedem zerstritten, wollte er seine Karriere bereits 1991 beenden. Mit 25. Doch dann wechselte er nach England zu Leeds United und wurde dort auf Anhieb Meister.
Ein Jahr später zog Cantona zu Manchester United weiter, wo er noch vier Meistertitel und zwei Pokalsiege holte. Schon damals war er mehr als ein Fußballer, er war anders. Ging die Mannschaft nach einem Sieg auf einen Post-Match-Drink, lautet die gewöhnliche Bestellung: 17 Bier und ein Glas Champagner. Während seine Kollegen in ihrer Freizeit mit Gameboys spielten, las Cantona französische Literatur oder malte abstrakte Bilder. "Viele Fußballer können sich nur durch den Fußball ausdrücken und entwickeln keine anderen Interessen", sagt Cantona, "und wenn sie dann ihre Karriere beenden, existieren sie eigentlich nicht mehr."
Cantona existierte jedenfalls schon vor dem Beginn seiner Karriere, sein Vater war Hobby-Maler und führte ihn als Kind durch Galerien. Und nach dem Ende seiner Karriere existierte er eben weiter. Klar habe er den Fußball und all das Adrenalin, das dabei ausgeschüttet wird, vermisst, erzählte Cantona mal der Bild, aber "es hilft sehr, wenn man etwas anderes findet, das dieselbe Leidenschaft in einem weckt".
Leben statt studieren
In Cantonas Fall war es die Schauspielerei. "Ich fühle mich dabei lebendig aber gleichzeitig in Gefahr und genau das mag ich", sagt er. Aber nicht nur das Filmemachen fasziniert Cantona, sondern die Kunst im Allgemeinen: "Es geht mir darum, etwas zu erschaffen. Ich meine Schauspielerei, Filme, Theater. Mir ist es wichtig, verschiedene Sachen zu machen und frei zu sein."
Cantona hat für all das keine tiefgreifenden Ausbildungen absolviert, er ist Autodidakt: "Ich studiere nicht, ich lebe." Derzeit von der Schauspielerei. Die ersten vier, fünf Jahre in diesem Geschäft seien ein Lernprozess gewesen, erinnert er sich, aber das störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil. "Manche Leute haben Angst davor, noch einmal bei null zu starten, weil sie sich vor Kritik fürchten", erzählt Cantona. Er habe aber keine Angst, nie. Er mag die Herausforderung: "Ich glaube, dass ich genug Humor dafür habe. Ich nehme das Leben nicht ganz so ernst, ich kann mit dem Leben spielen."
2009 spielte er in seinem womöglich berühmtesten Film nicht mit seinem Leben, er spielte sein Leben. "Looking for Eric", heißt der Film in dem Cantona er selbst ist. Und als er selbst ist Cantona das große Idol des Postboten und United-Fans Eric Bishop, der von Selbstzweifeln geplagt unter Panikattacken leidet und in einer tiefen Lebenskrise steckt. Dann raucht Bishop einen Joint und ihm erscheint Cantona, der ihn fortan mit philosophischen Ratschlägen unterstützt und wieder zu einem glücklichen Menschen macht. Und Cantona sagt: "I am not a man, I am Cantona."
Auch früher, auf dem Fußball-Platz, war Cantona kein Mann der großen Worte. Oder überhaupt der Worte. "Cantona hat die Mannschaft mit seiner Präsenz und seinem Charisma angeführt", erinnert sich sein ehemaliger Mitspieler Roy Keane. Umso erstaunlicher ist, dass Drehbuchautor Paul Laverty Cantona im Film "Looking for Eric" so reden lässt, wie er reden würde. "Er legt mir Sätze in den Mund und das Interessante ist, er ist mir damit sehr nahe gekommen", sagte Cantona der Welt.
Zukunft statt Vergangenheit
Als Spieler ließ er niemanden nahe an sich heran, jedem begegnete er mit Skepsis. Mindestens. Frankreichs Nationaltrainer Henri Michel soll Cantona einst einen "Sack Scheiße" genannt haben, woraufhin er aus dem Team geworfen wurde. Vor Gericht soll er einigen Richtern erzählt haben, dass er jeden einzelnen von ihnen für einen Idioten halte, und einem Schiedsrichter soll er mal während eines Spiels den Ball an den Kopf geworfen haben.
Cantona liebt es, sich mit Autoritäten anzulegen. 2010 rief er im Rahmen der Initiative "Bank Run" die französischen Bürger dazu auf, all ihr Geld von ihren Konten abzuheben, um den Finanzmarkt zum Kollaps zu bringen. Zwei Jahre später kündigte er an, sich als Präsidentschafts-Kandidat aufstellen zu lassen, nur um es dann doch nicht zu tun. Cantona handelte oft in vertrackten Rätseln.
Die Fans von Manchester United liebten ihn dafür genau wie für den Fußball, den er spielte und die Tore, die er schoss. 77 in 170 Spielen für United. Bis heute wird Cantona im Old Trafford besungen, die Fans denken wehmütig an ihn zurück und nennen ihn Eric, the king.
We'll drink a drink a drink
To Eric the king the king the king
He's the leader of our football team
He's the greatest
Centre forward
That the world has ever seen
Doch Cantona hat längst abgeschlossen mit dem Fußball und Manchester United, seine Zukunft ist seit 1997 die Schauspielerei. "Ich habe keine Ahnung, wo die Medaillen sind, die ich gewonnen habe, oder die Trikots der wichtigen Spiele", sagte Cantona mal, "das würde mich in Gedanken zu einem Gefangenen der Vergangenheit machen." Und wenn Cantona eines niemals sein wollte oder je sein will, dann ein Gefangener.