Türkei-Experte Fatih Demireli im Interview: "Der Militärgruß ist in der türkischen Gesellschaft omnipräsent"

Sorgten erneut mit dem Salut-Jubel für Aufsehen: die Spieler der türkischen Nationalmannschaft.
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Der Militärgruß, mit dem die türkische Nationalmannschaft ihre Tore bejubelt, schlägt hohe Wellen. Im Interview mit SPOX und Goal spricht Türkei-Experte Fatih Demireli über die umstrittene Aktion und erklärt ihre Bedeutung.

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Außerdem äußert sich der Herausgeber des Sportmagazins Socrates, der von 2010 bis 2016 für SPOX tätig war, zur Kritik an Ilkay Gündogan und Emre Can, die ein Foto der salutierenden türkischen Spieler mit "Gefällt mir" markierten.

Herr Demireli, was bewegt die türkischen Nationalspieler dazu, den Militärgruß zu machen?

Demireli: Das kann man nicht verallgemeinern. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür und man kann da nur mutmaßen. Manche sind sich bewusst, was gerade in Nordsyrien passiert und positionieren sich entsprechend. Dann gibt es welche, die den türkischen Soldaten nur moralische Unterstützung leisten wollen. Aber es gibt sicher auch einige Spieler, die die Situation gar nicht einzuschätzen wissen und nur salutieren, weil jeder salutiert.

Würden Sie die Düsseldorfer Bundesliga-Profis Kaan Ayhan und Kenan Karaman zu letzterer Gruppe zählen?

Demireli: Bei Kaan Ayhan hat man nach seinem Tor zum 1:1 in Frankreich angemerkt, dass er überhaupt nicht wusste, was er jetzt machen soll. Das muss man sich mal vorstellen: Da erzielt ein relativ junger Spieler einen wichtigen Treffer beim aktuellen Weltmeister im Stade de France, der die Türkei möglicherweise zur EM bringt, und muss seinen Jubel abbrechen. Ayhan war in einer Zwickmühle, er wusste: Beteiligt er sich an dem kollektiven Militärgruß, wird er in Deutschland wieder kritisiert und bekommt möglicherweise Ärger mit seinem Arbeitgeber Fortuna Düsseldorf, der ihn nach dem Spiel gegen Albanien ja mehr oder weniger zum Rapport gebeten hat. Er wusste aber auch: Beteiligt er sich nicht, wird er in seiner Heimat kritisiert.

Sorgten erneut mit dem Salut-Jubel für Aufsehen: die Spieler der türkischen Nationalmannschaft.
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Sorgten erneut mit dem Salut-Jubel für Aufsehen: die Spieler der türkischen Nationalmannschaft.

Demireli erinnert an Militärgruß von Lukas Podolski bei Galatasaray

Ist das nun der Fall?

Demireli: Innerhalb der Mannschaft nicht, auch wenn sein Mitspieler Merih Demiral ihn fast schon dazu gedrängt hat, den Militärgruß zu machen. Nach dem Spiel zählte nur das Ergebnis, an dem Ayhan einen wichtigen Anteil hatte. Die Spieler lagen sich nach dem Abpfiff in den Armen. In den Sozialen Netzwerken hingegen wurden er und auch Karaman schon kurz nach dem Tor stark kritisiert. "Leute, wovor habt ihr Angst? Warum salutiert ihr nicht?", fragten einige User auf Twitter und Facebook. Beide Spieler haben eben auch noch ein Leben in Deutschland. Man muss aber auch bedenken, dass in der Türkei ein ganz anderer Bezug zum Militär besteht als hierzulande.

Inwiefern?

Demireli: In Istanbul stehen zum Beispiel mehrere Militärstützpunkte. Das Militär ist Teil des Stadtbildes und wird als völlig normal wahrgenommen. Es gibt auch einen verpflichtenden Wehrdienst und viele Organisationen, die sich für Soldaten einsetzen. Man wächst damit auf, die Soldaten zu mögen. Der Militärgruß ist in der türkischen Gesellschaft omnipräsent, unabhängig davon, ob es einen Konflikt in einem anderen Land gibt oder nicht. Der Sport bildet dabei keine Ausnahme. Vor jedem Süper-Lig-Spiel wird die türkische Nationalhymne gespielt, da salutieren alle Polizisten im Stadion. Und auch viele ausländische Spieler haben schon den Militärgruß gemacht, ich erinnere da nur an Lukas Podolski während seiner Zeit bei Galatasaray Istanbul. Ich glaube nicht, dass Podolski damit ein politisches Statement abgeben wollte.

Lukas Podolski spielte von 2015 bis 2017 für Galatasaray.
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Lukas Podolski spielte von 2015 bis 2017 für Galatasaray.

Demireli: "Mit reiner Hau-Drauf-Mentalität kommen wir nicht weit"

Glauben Sie, dass Spieler wie Merih Demiral oder Cenk Tosun, die den Jubel forcierten, ein politisches Statement abgeben wollten?

Demireli: Ich tue mir schwer, dies zu beantworten, weil ich es problematisch finde, zu viel zu interpretieren. In der Türkei spielen nunmal der stark ausgeprägte Stolz und die Emotionen sicherlich eine große Rolle. Ich persönlich habe Cenk Tosun, der übrigens in Deutschland geboren wurde und aufwuchs, aber nie über gesellschaftliche oder politische Themen sprechen hören. Er wird als freundlicher, sympathischer Zeitgenosse wahrgenommen, der sich von solchen Themen eher fernhält. Ich glaube auch nicht, dass Merih Demiral die Intention verfolgt, seine Mitmenschen politisch zu motivieren. Er hat sein gesamtes Profileben bis auf wenige Monate im Ausland verbracht.

Wird Ihnen bei der Diskussion ein zu großes Fass aufgemacht?

Demireli: Diskutieren kann man immer, aber ich bekomme Kopfschmerzen, wenn man ohne Hintergrundwissen und mit reiner Interpretation den Militärgruß einiger türkischer Spieler mit den hässlichen Szenen beim Spiel zwischen Bulgarien und England gleichsetzt, wie es einige Medien gerade machen. Bei den Hitler-Grüßen in Bulgarien ist klar: Die Leute, die das machen, sind Nazis und wollen bewusst ihr krankes Gedankengut an die Öffentlichkeit tragen. Bei den türkischen Spielern kann es die unterschiedlichsten Gründe geben, weshalb sie salutieren. Unwissenheit schützt zwar nicht, man sollte aber vielleicht erst einmal nachfragen. Kommunikation ist immer noch der beste Weg, um Probleme zu lösen. Bevor man Kaan Ayhan anprangert, sollte man ihm die Möglichkeit gewähren, sich zu dem Thema zu äußern. Bei Cenk Sahin war es ja auch so, dass es noch ein Gespräch zwischen dem Spieler und dem FC St. Pauli stattfand, bevor entschieden wurde, dass eine Trennung die beste Entscheidung für alle Beteiligten ist. Mit reiner Hau-Drauf-Mentalität kommen wir nicht weit.

Demireli: "Am Ende sind Gündogan und Can immer die Verlierer"

Draufgehauen wurde in den vergangenen Tagen auch bei Ilkay Gündogan und Emre Can, nachdem sie ein Foto von Cenk Tosun mit einem Like versehen hatten, das die türkische Mannschaft beim Militärgruß zeigt. Wie beurteilen Sie die Diskussionen?

Demireli: Sollten Ilkay Gündogan und Emre Can die Absicht haben, etwas zu kommunizieren, hätten sie genügend Instrumente, dies deutlicher zu machen. Hätten sie selbst ein Foto gepostet, hätten wir eine Basis für eine Diskussion auf diesem Niveau. Ein Like für das Foto eines Freundes ist für mich ehrlich gesagt keine Basis, um Gündogan und Can nachzusagen, dass sie damit ein Statement abgeben wollen. Dennoch muss ihnen als Profifußballer klar sein, dass jeder noch so kleine Wimpernschlag von ihnen registriert wird. Sie werden daraus lernen und nicht mehr beim Scrollen jedes Foto liken.

Wie fiel die Reaktion der Türken aus, als sie mitbekamen, dass Gündogan und Can ihre Likes zurücknahmen?

Demireli: Negativ. Auch da fielen wieder Wörter wie "Vaterlandsverräter". Gündogan und Can stecken in einem Dilemma, weil sie auch einen engen Bezug zur Türkei haben, einige ihrer Familienmitglieder und Freunde leben dort. Sie reisen auch gerne in die Türkei. Am Ende können sie es nicht jedem recht machen und sind immer die Verlierer. Da würde etwas Empathie nicht schaden. Natürlich haben sie sich jetzt in Deutschland entschuldigt, aber man hat nicht das Gefühl, dass die Sache vergessen ist. Nach dem Länderspiel gegen Estland wurde ja nicht in erster Linie über den Torschützen Gündogan geschrieben, sondern über dieses Like.

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