"Ich erklimme die Tribüne, suche meine Frau und meinen vierjährigen Sohn, der dort im grün-weißen Trikot sitzt und der wie jedes Spiel darauf wartet, dass ich ihn abhole und mit vor die Kurve nehme", schreibt Ömer Erdogan in einem Gastbeitrag bei 11Freunde. Er fährt fort: "Dieses Mal ist aber kein Durchkommen, überall Menschen, frenetisch feiernde Fans, mittendrin Reporter, die versuchen, Wortfetzen als Exklusivinterviews zu verkaufen. Ich bringe meinen Sohn und meine Frau in Sicherheit. Dann flüchte ich in die Kabine und schließe die Tür."
Dieser Tag, an dem plötzlich alles anders ist, ist der 16. Mai 2010. Bursaspor sollte am Abend jenen Tages seinen ersten und einzigen türkischen Meistertitel feiern. Eine Sensation. Erstmals seit 1984, seit Trabzonspors bisher letztem Coup, hieß der Meister mal wieder nicht Galatasaray, Fenerbahce oder Besiktas. Und seit 2010 waren es dann auch wieder stets die drei alles überstrahlenden Giganten aus Istanbul, die den Titel unter sich ausmachten: Viermal Gala, je zweimal hatten Fener und Besiktas am Ende die Nase vorn.
Sollte Basaksehir die Phalanx dieses Trios in diesem Jahr durchbrechen, wäre das natürlich keine Sensation wie 2010 in Bursa. Der erst seit 2014 unter diesem Namen existierende Klub aus Istanbul hat sich in den letzten Jahren in den Top-Vier der Türkei etabliert, wurde 2017 Vizemeister und vergangene Saison Dritter.
Und in dieser Spielzeit hatte Basaksehir, gespickt mit klangvollen Namen wie Robinho, Emmanuel Adebayor oder Gael Clichy und dem wohl von mehreren Bundesligisten umworbenen Bosnier Edin Visca, Mitte März schon mal acht Punkte Vorsprung auf Verfolger Galatasaray. Vor dem direkten Duell am Sonntag (18 Uhr), der vielleicht vorentscheidenden Partie um die Meisterschaft am vorletzten Spieltag, ist man jedoch punktgleich mit Gala. Und Cimbom liegt wegen der besseren Tordifferenz inzwischen wieder an der Tabellenspitze.
Bursaspor vs. Fenerbahce: Das Titelrennen 2010
Für Ömer Erdogan und Bursaspor war seinerzeit nicht Galatasaray, sondern Fenerbahce der Konkurrent im Titelrennen. Der damals 32-Jährige, in Kassel geboren, startete seine Profikarriere einst Ende der 90er Jahre beim FC St. Pauli in der 2. Bundesliga. Insgesamt sieben Jahre spielte er später für Bursaspor, 2013 beendete er seine Karriere. Ein Schlüsselerlebnis jener Saison 2009/2010: Die Partie bei Fener am 22. Spieltag.
Bursa war Dritter, hätte bei einer Niederlage in Istanbul den Kontakt zum Spitzenduo verloren. Früh lag Bursa mit 0:2 hinten, es sah schlecht aus. Doch man kämpfte sich zurück: "In der 85. Minute machte Ozan Ipek mit einem indirekten Freistoß im Strafraum das 2:2", erinnert sich Erdogan. "Und dann ging alles so rasend schnell: Unser Keeper faustete einen Ball aus dem Strafraum, über Köpfe im Mittelfeld sprang dieser auf den schnellen Volkan Sen, der die Linie entlang flitzte wie Speedy Gonzales. Keine Ahnung, wo der die Kraft hernahm, er hängte sie jedenfalls alle ab. Der kurze Blick, der flache Pass und in der Mitte schob wieder Ozan Ipek ein. 3:2! Bei Fener, in der gelben Hölle!"
Bursa drückten daraufhin deutlich mehr Menschen die Daumen, als es die Spieler gewohnt waren. "Nach dem Triumph bei Fenerbahce war es, als läge die Hoffnung eines ganzen Landes auf uns", erinnert sich Erdogan. Am 24. Spieltag übernahm seine Mannschaft die Tabellenführung, mit weitgehend unbekannten Stars wie dem jungen Volkan Sen, dem Argentinier Pablo Batalla, Linksaußen Ozan Ipek oder eben Ömer Erdogan. 2004 war Bursa noch abgestiegen, schaffte 2006 den Wiederaufstieg. 2008 wurde man nur 13., 2009 dann immerhin Sechster.
Aus Istanbul gab es im Frühjahr 2010 beinahe täglich Sticheleien in Richtung Bursa, um das im Titelrennen unerfahrene Team aus dem Konzept zu bringen. Gala und Besiktas verabschiedeten sich in der finalen Phase jedoch aus dem Meisterschaftsrennen. Fener hingegen drehte noch einmal auf, zog am 31. Spieltag wieder an Bursa vorbei, das bei Galatasaray nur 0:0 spielte. Und vor dem letzten Spieltag hatte Fenerbahce einen Punkt Vorsprung auf Bursaspor.
Dann kam der Showdown am 16. Mai. Letzter Spieltag. Bursa hatte Besiktas zu Gast, Fener spielte zuhause gegen Trabzonspor. "Plötzlich explodiert das Stadion. Wir ahnen, dass Trabzon ein Tor gemacht hat - es läuft traumhaft, denn mit dem nächsten Angriff gehen wir selbst mit 1:0 in Führung, und kurz vor der Halbzeit fällt das 2:0 durch ein Eigentor von Besiktas' Ibrahim Toraman", erinnert sich Erdogan. "In der Kabine sind wir außer uns vor Freude. 'Komm runter, komm runter', sage ich mir. Und die Ernüchterung folgt: Fener hatte bereits früh das 1:0 markiert, der Jubel auf den Tribünen galt Trabzons Ausgleichstor. Fener wird sicher noch ein Tor machen, denke ich."
Feners Stadionsprecher verkündet falsches Ergebnis aus Bursa
Bursa kann nur Meister werden, wenn Fener nicht gewinnt, so viel ist klar. Im eigenen Spiel bleibt es lange beim 2:0. Für Besiktas geht es nur noch darum, ob man am Ende Dritter oder Vierter wird. Die Europa League ist sicher, die CL-Quali nicht mehr möglich. Der letzte Punch fehlt dem Spiel von BJK daher - und die Partie plätschert dahin. "Ich schaue auf die Tribüne und sehe die Menschen gebannt an Radiogeräten lauschen. Unser Spiel ist Nebensache", erzählt Erdogan. "Noch mal ein Blick, ein kleiner Junge sieht mich, winkt und hebt die Zeigefinger seiner rechten und linken Hand. Zwischen Fenerbahce und Trabzonspor steht es immer noch 1:1. Mein ganzer Körper vibriert. Noch drei Minuten, da macht Ugur Inceman den Anschlusstreffer. Ruhig bleiben, Jungs!"
Bursa bringt das 2:1 über die letzten Minuten. Das Spiel in Istanbul geht ein paar Minuten länger, es steht weiterhin 1:1. Bursaspor wäre damit Meister, unfassbar! Und dann begeht Feners Stadionsprecher einen verhängnisvollen Fehler, verkündet über die Außenmikrofone: Besiktas hat das 2:2 erzielt, wir sind Meister! "Warum, weiß ich bis heute nicht", sagt Erdogan. "Bei diesem Spielstand wäre also Fenerbahce Meister. Die Fener-Fans drehen durch und die Elf verwaltet die letzten Minuten ihr Unentschieden. Der Ball wird mitunter aus der gegnerischen Hälfte zum eigenen Torwart gepasst."
Es bleibt beim 1:1. Bursa ist Meister! Bei Fener um den damaligen Trainer Christoph Daum hat man das aber auch nach Schlusspfiff noch nicht mitbekommen, jubelt im Glauben, Bursa habe nur unentschieden gespielt, schon über den Titel. Erst nach einigen Minuten sickert durch, dass man wegen des 1:1 die Meisterschaft verspielt hat. "Leider war das ein falsches Ergebnis. Bursaspor hat gewonnen", korrigiert der Stadionsprecher kleinlaut. Die Fans sorgen daraufhin für Randale, Sitzplätze brennen, die Feuerwehr muss anrücken. Und Fenerbahces damaliger Präsident Aziz Yildirim soll den Stadionsprecher wegen seiner falschen Ansage verprügelt haben.
In Bursa sind sie indes wild vor Glück. "Bei uns im Stadion blocken wir die Journalisten ab. Wir stehen im Mittelkreis ohne Radio, nur unser Präsident Ibrahim Yazici hat eine Telefonverbindung nach Istanbul", so Ömer Erdogan. "Dann reißt er die Arme hoch. Dann Jubel. Dann Chaos. In Bursa drängen die Menschen auf die Straßen, im Stadion stürmen sie den Rasen."
Nachdem er seine Frau und seinen Sohn in Sicherheit gebracht hat, zieht er sich zurück und genießt zunächst die Stille. Er ist Meister, Bursaspor ist Meister. Als einziger Klub in den letzten nun 35 Jahren, der nicht Galatasaray, Fenerbahce oder Besiktas heißt. "Ich sitze immer noch in der Kabine und habe Angst. Angst davor, dass alles ein Missverständnis war, dass Fener in der Nachspielzeit ein Tor gemacht hat, das die Kommentatoren unterschlugen. Dann kommen meine Mitspieler. Schließlich mein Trainer. Er sagt: 'Ich bin stolz auf euch!'"