Über ein Jahr spielt Marc-Andre ter Stegen nun schon im Dress der Blaugrana. Er hat viel erlebt, viel gesehen und durfte vor wenigen Monaten gleich mehrere Trophäen in die Höhe recken. Da war der Sieg in der Copa del Rey, da war die Auszeichnung zur Parade der Saison und - natürlich - der Pokal mit den großen Ohren, der Sieg in der Champions League gegen Juventus Turin in Berlin.
So viel erlebt und gesehen wie in den letzten Wochen hat ter Stegen allerdings noch nicht. Insgesamt sieben Spiele bestritt der 23-Jährige in dieser Spielzeit schon, zuletzt waren es sogar fünf am Stück. Claudio Bravo fiel aus, der Chilene zog sich, zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie ter Stegen im letzten Jahr, eine leichte Muskelverletzung zu.
Dieser kleine Riss am Knochenfortsatz des dritten Lendenwirbels beim damaligen Neuzugang aus Borussia Mönchengladbach wirkte entscheidend auf die restliche Saison ein. Luis Enrique hatte zuvor einen offenen Konkurrenzkampf ausgerufen, ter Stegen musste passen, Bravo übernahm und machte seine Sache mehr als ordentlich.
In Ungnade bei Fans und Medien
Ein Jahr später hat Enrique die eigentlich gleiche Situation wieder zu meistern, wird aber zu einem anderen Schluss kommen. Der Verletzte wird diesmal nicht zum Pokal-Torhüter umfunktioniert werden, Bravo wird wieder die Hauptrolle in der Liga übernehmen. Das hat Gründe. Gründe, die aus Sicht vieler einfach auf der Hand liegen. Gründe vor allem, die hinter ter Stegen im Netz zappeln.
Der junge Torhüter hat in seinen sieben Einsätzen in dieser Saison noch nicht ein einziges Mal die Null halten können. Krumme Dinger, wie der Ausgleich von Alessandro Florenzi (1:1) der Roma, fügen sich zu einem Gesamtbild, das ter Stegen so schnell nicht abschütteln wird.
Die Reaktionen der Presse sind hart, die der Fans aber oft noch härter. Ter Stegen, so der Grundtenor, ist ein Fliegenfänger. Einer, der denkt, so spielen zu müssen, wie es Manuel Neuer beim FC Bayern München tut. 36 Prozent der MundoDeportivo-Leser schreiben ihm die Schuld an der Gegentorflut zu.
Einer "der besten Torhüter der Welt"
Bravo hielt in seinen beiden Liga-Einsätzen die Null. Das ist das, was die Medien projizieren. Dass weder Bilbao (1:0) noch Malaga (1:0) sonderlich gefährlich auf das Tor von Bravo stürmten, ist dann schon wieder lange vergessen. Ter Stegen leidet an einem Problem, das in Barcelona nur allzu gut bekannt ist.
Die Gesamtleistung stimmt, Barcelona kann froh sein, einen "der besten Torhüter der Welt", so Kumpel Ivan Rakitic, in seinen Reihen zu wissen. Und doch zerstören Gegentore, die vielleicht nicht einmal als Fehler angerechnet werden können, den Gesamteindruck.
Victor Valdes, nun bei Manchester United, erging es nicht anders. Der Katalane hatte immer seine Fürsprecher im Verein, die Kritiker waren allerdings um einiges lauter. Jemals ernsthaft zur Debatte stand Valdes jedoch nie. Aus guten Gründen, sagen die einen, aufgrund seiner La-Masia-Vergangenheit sagen die anderen.
"Warum soll ich mich ändern"
Wer in Barcelona spielt, der wird darum nicht herumkommen, sich mit gerechtfertigter wie nicht gerechtfertigter Kritik herumzuschlagen. Die Stimmung gleicht, speziell auf der Position des Torhüters, einer Achterbahnfahrt. Dementsprechend hat ter Stegen schon den richtigen Weg gefunden, wenn er sagt: "Warum soll ich mich ändern? Alles ist gut. Es ist eure Arbeit, zu denken und zu reden."
Alles ist nicht gut, aber doch eine ganze Menge. Ter Stegen spielt gut, wenn nicht sogar herausragend mit, wenn sein Team in Ballbesitz ist. Er hat eine Passgenauigkeit auf kurze wie lange Distanzen, die genau das ist, was Barcelona braucht, um sich auch unter Druck spielerisch zu befreien.
Er ist stark im Eins-gegen-Eins, wenn er auch noch nicht die Ruhe ausstrahlt, wie sie Valdes in seiner Paradedisziplin mitbrachte. Und er hat natürlich die Reflexe, die man als Torhüter auf höchstem Niveau braucht. Herausragende Paraden, wie die gegen den FC Bayern im Mai, verblassen aber schnell im Gedächtnis.
Der Mensch erinnert sich negativ
Der Mensch erinnert sich besser - oder vielleicht: lieber - an negative Ereignisse. Fehler bleiben eher hängen als Paraden. Diese tauchen immerhin nicht im Spielbericht auf. Insofern ist der Job eines Torhüters ein undankbarer, umso mehr beim FC Barcelona, der ganz bestimmte Forderungen an seine Keeper stellt.
Da kann Luis Enrique noch so viel erklären, Lionel Messi noch so viel loben und Xavi noch so viel von der Beidfüßigkeit ter Stegens schwärmen - am Ende wurde seine Kopfballabwehr gegen Athletic Bilbao (1:4) von Ander Iturasspe aus gut und gerne 60 Metern im Tor versenkt.
Als der Deutsche elf Tage früher aus dem Urlaub zurückkehrte, wollte er es dem "Trainer so schwer wie möglich machen", sich zwischen Bravo und ihm zu entscheiden. Vorerst hatte Lucho besonders aufklärende Arbeit zu leisten und genau das ist der Knackpunkt, warum letztlich doch wieder der Chilene Bravo das Torwarttrikot trägt.
Bravo, das Schutzschild
Barcelona braucht Ruhe und auch ter Stegen braucht Ruhe. Der Job als Torhüter ist alles andere als leicht und er wird bei weitem nicht leichter, wenn das Umfeld so unruhig ist. Das ist der Grund, warum Enrique bei seinem Amtsantritt 2014 einen erfahrenen Torhüter aus der Liga forderte.
Der 32-jährige Bravo ist ruhig, konnte sich sofort mit seinen Vordermännern verständigen und hat vor allem ein Standing. Sicher hatte Andoni Zubizarreta mit der Verpflichtung von ter Stegen ein gutes Händchen bewiesen, doch auf höchster Ebene geht es nicht immer nur um pure Qualität. Was hat ein junger Torhüter davon, sich nach jedem Spiel einer wütenden Meute ausgesetzt zu sehen?
Sein Konkurrent funktioniert gewissermaßen als Schutzschild, er gibt Ruhe. Andoni Cedrun, langjähriger LaLiga-Torhüter erklärte bei La Tercera: "Claudio hat eine andere Form des Seins. Er ist umsichtiger, für ihn ist das Tor sein Job, er spekuliert nicht wie ter Stegen, er zeigt: 'Hier bin ich der Chef.'"
"Er muss da jetzt durch"
Über Bravo werden keine Bälle ins Tor segeln und er wird nicht für kollektiven Atemstillstand im Stadion sorgen. Für die Kritiker spielt Bravo, für die Zukunft spielt ter Stegen. Das ist Enriques Plan und der machte sich zumindest im letzten Jahr mehr als bezahlt.
"Er muss da jetzt durch", sagte Bodo Illgner bei Sport1 und signalisierte damit die Richtung. Einfach immer weiter machen. Dass ihm das Team zur Seite steht, hilft. "Das war kein Fehler von Marc, sondern geht 100 Prozent auf die Kappe von Florenzi. Ter Stegen gibt uns Verteidigers die Möglichkeit, sehr hoch zu stehen", twitterte Pique nach dem Unentschieden in der Königsklasse in Rom.
Am Ende stellt der Trainer auf und dieser ist überzeugt von ter Stegen und seinem "unglaublichen Selbstbewusstsein". Wie wichtig dieses ist, zeigte schon ter Stegens Vorbild Oliver Kahn. Und der sagte schließlich selbst: "So Phasen gibt es halt mal. Wenn's scheiße läuft, läuft's scheiße."
Marc-Andre ter Stegen im Steckbrief