Donnerstag, 8. Juni, 21.02 Uhr, Stadio Ciro Vigorito. Das Playoff-Finalrückspiel der Serie B zwischen Benevento Calcio und dem FC Carpi um den letzten Aufstiegsplatz geht in die 32. Minute. Unbeschreiblich laut ist es im ausverkauften Rund an der Via Santa Colomba. Carpi ist trotz des 0:0-Hinspiels als Absteiger aus der Serie A favorisiert, doch Benevento ist mit Lorenzo Venuti auf dem Vormarsch.
Der Außenverteidiger lässt Carpis Gaetano Letizia wie einen Schuljungen stehen, zieht dynamisch zur Grundlinie und in den Strafraum, ehe er messerscharf nach innen gibt. Am ersten Pfosten lauert ein Stürmer, der auf den Namen Puscas hört. George Puscas hält den Schlappen hin und lässt das Stadio erbeben.
Das, was sich nun abspielt, ist mit Worten wie Freude oder Ekstase kaum zu beschreiben. Orgiastisch würde es besser treffen. Das 1:0 von Puscas ist mehr als nur ein gewöhnliches Führungstor. Es ist das Tor zum Himmel, eines für die Ewigkeit. Eine Erlösung für eine ganze Stadt nach Jahren des Scheiterns und der Niederschläge.
Benevento Calcio ist erstklassig. Ein Verein, der im Januar 2015 noch in der Serie C rumdümpelte. Ein Verein mit größten finanziellen Schwierigkeiten, der immer dann, wenn es darauf ankam, den Kürzeren zog. Wie um alles in der Welt konnte das passieren?
Kampanisches Derby gegen Napoli
Fährt man von der italienischen Westküste am Golf von Neapel circa 70 Kilometer die Staatsstraße 7 ins Landesinnere, strandet man unweigerlich in Benevent, einem 60.000-Seelen-Städtchen der Provinz Benevento. Beschaulich ist es hier, geradezu ländlich. Eigentlich so gar nicht der Ort, den man mit großen Momenten des italienischen Liga-Fußballs in Verbindung bringen könnte.
Das wird sich nun in der kommenden Saison der Serie A ändern, wenn Benevento den SSC Neapel zum kampanischen Derby empfängt. Mächtig stolz sind sie bei Benevento auf ihren rustikalen Stadionbau aus dem Jahr 1979. Nicht etwa, weil er besonders schön oder groß ist, sondern wegen der Atmosphäre, die sich von der Curva Sud auf das Spielfeld entlädt.
Juve zu Gast bei der Stadion-Einweihung
Der heimische Hexenkessel steht sinnbildlich für das Scheitern Beneventos, aber gleichzeitig auch für die Renaissance des Provinz-Klubs, war doch gerade die Heimstärke Beneventos ein entscheidender Faktor beim historischen Durchmarsch von der dritten in die erste Liga.
Bei seiner Eröffnung sollte das einst Santa Colomba genannte Stadion Symbol des Aufbruchs in eine glorreiche Zukunft sein, nachdem Benevento in seiner Blütezeit der 1970er Jahre immer mal wieder am Aufstieg in die Serie B schnupperte. Nicht umsonst wurde als Gast für die Einweihungspartie am 8. September 1979 der amtierende Pokalsieger Juventus Turin eingeladen.
Nach seiner Eröffnung musste das Ciro Vigorito allerdings lange Zeit auf den ganz großen Wurf warten - 13788 Tage, um genau zu sein.
Benevento: Sturz in die Viertklassigkeit
Er geht einher mit dem Ende einer 38 Jahre währenden Fahrstuhlfahrt am Rande der Existenz. Denn sportlich lief Benevento nach dem symbolträchtigen Bau des Stadions der erfolgreichen Dekade zwischen 1970 und 1980 hinterher. Auch finanziell geriet der Klub in extreme Nöte. Es folgte 1990 mit dem Zwangsabstieg in die Seconda Divisione der Sturz in die Viertklassigkeit.
Nach einem kurzen Hoch Anfang der 2000er Jahre und dem Erreichen der 3. Liga stand Benevento 2005 abermals vor dem endgültigen Kollaps. Erneut verpassten die Giallorossi knapp den Aufstieg in die Serie B und waren zudem zahlungsunfähig.
Es folgte ein erneuter Zwangsabstieg in die Seconda Divisione und der Bruch mit den Fans. Anschließend übernahmen die Brüder Ciro und Oreste Vigorito das Zepter. Es sollte der Beginn einer neuen Zeitrechnung in der kampanischen Provinz sein, ein Aufbruch in eine neue Ära.
Benevento und der Playoff-Fluch
Finanziell schipperte der Klub in sichererem Fahrwasser. Den Makel als Fahrstuhlmannschaft wurde Benevento aber auch unter den Brüdern Vigorito nicht los. Es schien ein Playoff-Fluch auf dem Klub zu liegen, denn egal wie gut die Ausgangslage auch sein mochte, Benevento brachte es zustande, das Ganze irgendwie doch in den Sand zu setzen.
So spielte Benevento 2014 eine herausragende Saison, wurde Tabellenzweiter und ging als Favorit in die Aufstiegs-Playoffs zur Serie B, nur um bereits in Runde eins die Segel zu streichen. Seit 1990 scheiterte Benevento zwölf Mal in den Playoffs zum Aufstieg in die Serie B. Doch dann kam diese eine Saison, die alles verändern sollte.
2015/2016 wurde Benevento unter Trainer Gaetano Auteri überlegener Drittliga-Meister. Endlich mal nicht in diese verdammten Playoffs. Großen Anteil daran hatte die heimische Arena. Die Giallorossi blieben zu Hause ein Jahr lang ungeschlagen und legten so den Grundstein für die erste Zweitliga-Saison der Vereinsgeschichte.
Über 47 Spiele ins Glück
Und es sollte noch besser kommen. Mit Marco Baroni wurde der Cheftrainer geholt, auf den man in Benevento so lange gewartet hatte. Einer, der gemeinsam mit Diego Maradona den Scudetto holte. Einer, der von den großen Fußball-Taten erzählen konnte. Der weiß, wie sich es sich anfühlt, ganz oben zu sein - und der vielleicht sogar mit Benevento die Klasse hält. Wer schließlich mit Diego gekickt hat, könne ja vielleicht auch Unmögliches möglich machen.
Und wirklich: Lediglich 47 Spiele benötigte Baroni bei den Giallorossi, um als Held auf den Schultern der Fans aus dem Stadion getragen zu werden. Am liebsten hätten sie ihm wohl schon an diesem Abend des 8. Juni nach dem Spiel gegen Carpi ein Denkmal gebaut.
Ihm und seinen Spielern mit klangvollen Namen wie Walter Lopez, Nicolas Viola oder eben jenem Schützen des Jahrhundert-Tores George Puscas. Denn sie haben einen Fluch besiegt, der für alle Ewigkeit auf Benevento zulasten schien.
Kuriose italienische Playoffs
Dass es überhaupt dazu kam, ist dem merkwürdigen Modus der italienischen Playoffs geschuldet. In der Serie B haben nach den 38 Spielen der regulären Saison vom Tabellendritten bis zum Tabellenachten alle noch die Chance auf den Aufstieg. In drei Playoff-Runden wird das letzte Ticket für die Serie A ausgespielt.
Als Tabellenfünfter hieß es für Benevento also einmal mehr: Win or go home. Lange werden sie in der Provinz noch von diesen fünf Spielen sprechen, als man sich weder von Spezia Calcio, noch vom AC Perugia oder dem FC Carpi die Butter vom Brot nehmen ließ.
Und vom Stadio Ciro Vigorito, das erneut zum Symbol der Vereinshistorie wurde, dieses Mal endlich wieder im positiven Sinn. Die Festung stand, in den Playoffs wurden alle drei Heimspiele gewonnen.
Ein Jahr zum Genießen
Was die erste Serie-A-Saison der Vereinsgeschichte letztlich mit dem Verein Benevento Calcio anstellen wird, ist schwer abschätzbar. Es dürfte auf Genießen hinauslaufen, der Klassenerhalt scheint auf dem Papier ein aussichtsloses Unterfangen.
Dafür könnten Baroni und Co. aber für ordentlich Spaß in der Serie A sorgen. So wie sie das schon im Trainingslager in Südtirol der Fall war. Wie man hörte, soll die Mannschaft einen feuchtfröhlichen Party-Abend auf einem Stadtfest in Bruneck genossen haben. Geschadet hat das nicht, immerhin rang Benevento zwei Tage später keinem Geringeren als Bundesligist Eintracht Frankfurt ein 1:1-Unentschieden ab.
Das Saisonziel für 2017/2018 haben Trainer Baroni und seine Jungs jetzt schon erreicht. Sie alle werden in diesem Jahr einmal mit den Großen kicken. Und das ist mehr, als sich die Fans jemals hätten erträumen können.