Sechs Jahre, bevor Philipp Lahm durch ein Spalier des Beifalls schreitet, steht er in Wien und starrt Jens Lehmann an. 24-jährig, mit roten Backen, korrekter Kurzhaarfrisur und diesem Gefühl der Gewissheit, etwas falsch gemacht zu haben. Ausgerechnet Lahm, der doch nie Fehler begeht, schon gar keine schwerwiegenden, sieht dem Unheil hinterher, das er nicht verhindern konnte.
Sechs Jahre, bevor Fernando Torres seiner Karriere als Auslaufmodell einen letzten Antrieb verpassen will, läuft er quietschig-vergnügt zur Eckfahne und lutscht am Daumen. 24-jährig, mit roten Backen, blonden Strähnen und diesem Gefühl der Überlegenheit. Torres, der Superstürmer, hat Lahm, den Superverteidiger, wie einen Schulbub überlistet und Lehmann gezeigt, dass seine Zeit endet. 1:0. Spanien ist Europameister.
Kind mit Killerinstinkt
Der Spitzname von Fernando Jose Torres Sanz lautet "El Nino", das Kind, weil dieser Fußballspieler auch im Erwachsenenalter so viele Sommersprossen und so seichte Gesichtszüge aufweist, dass er irgendwie liebkosend wirkt. 2008 wie 2014, auch wenn die Konturen etwas gesetzter sind. Torres ist inzwischen 30, genau wie Lahm, der emeritierte Weltmeister.
Vor dem gegnerischen Tor hat Torres lange den Kontrast seiner Optik verkörpert, einen kompromisslosen Vollstrecker, der selten in Verdacht kam, dem infantilen Spieltrieb zu verfallen. Er sah nur so aus. Das erinnert an den Norweger Ole Gunnar Solskjaer, der für Manchester United spielte und als "Killer mit dem Babyface" bekannt war. Nicht nur der FC Bayern kennt Details.
Torres brilierte mit Explosivität,, Gedankenschnelligkeit, Abschlussstärke. Sein ehemaliger Coach Luis Aragones, der in diesem Frühjahr verstarb, ergänzte das Potpourrie um "Schnelligkeit, spielerische Qualität und Torriecher. Er schießt nie zwei Tore auf dieselbe Art und Weise."
Im Jahr 2008 war Torres der beste Strafraumstürmer der Welt.Inzaghi und die Hoffnung
In England, wo sie mitunter der beißenden Häme frönen, waberte unlängst ein Faktenklatsch durchs Netz. Er besagte, dass Diego Costa drei Spiele für seine ersten vier Tore im Chelsea-Trikot benötigte. Bei Torres waren es deren 39.
Als nach Costa gar Altstar Didier Drogba zu den Blues kam, wusste Torres, dass der Aufbruch unausweichlich ist. Dreieinhalb Jahre Chelsea, 110 Premier-League-Partien, 20 Treffer. Eine kümmerliche Bilanz. Kurz vor Transferschluss lieh Milan den Torjäger a.D. bis 2016 aus. Für die Italiener ist es die Hoffnung, Mario Balotelli mit mehr Berechenbarkeit und vergleichbarer Klasse zu ersetzen; für Torres der wohl finale Versuch, seinen Leistungsabfall zu bremsen. "Bei Milan starte ich bei null", sagt er.
Außerdem hat Torres von "Ehre" und "Privileg" gesprochen, natürlich, die gewohnten Plattitüden. Bei der Frage, welche Marke er den Anhängern denn versprechen könne, wich er indes vom Schema ab: "Ich hoffe einfach, dass die Tifosi den Torjäger sehen, der ich immer war."
AC-Coach Pippo Inzaghi, ein Novize auf der großen Trainer-Bühne, soll das schaffen, woran Carlo Ancelotti, Rafael Benitez und Jose Mourinho gescheitert sind: Den "alten" Torres zu beleben. Jenen Angreifer, der bei Atletico und Liverpool zur Weltklasse reifte, der 2008 den dritten Platz bei der Weltfußballerwahl belegte und Lahm im EM-Finale düpierte. "El Nino", der Strahlemann mit Sommersprossen, soll die Verteidiger wieder umhertreiben wie Matadore die Stiere in der Arena.
Als Anfield tobte
"Ich bin sicher, dass er weiß, was er anstellen muss", sagt Torres über Inzaghi, während sich die Milan-Legende so ausdrückt: "Er hat viele Tore erzielt, das vergisst man nicht einfach." Chelsea-Fans würden protestieren, aber das ist eine andere Geschichte. Die nähere Zukunft heißt San Siro, nicht Stamford Bridge.
Schon 2007, als Torres noch in Madrid war, umgarnte ihn Milan heftig. Als 17-Jähriger hatte der Knabe für Heimatklub Atletico debütiert, mit 19 erkor ihn Aragones zum Kapitän. "Mein Juwel" nannte er seinen Scharfschützen gerne. 244 Einsätze und 91 Tore später verabschiedete sich Torres für 38 Millionen Euro zum FC Liverpool.
An der Merseyside wurde der Spanier zu einem der gefährlichsten Angreifer überhaupt. Als schnellster Akteur der Vereinshistorie erreichte er 50 Tore, insgesamt summierten sich 81 Volltreffer in 142 Spielen. Das Kind im Mann gab den Zahlen ein Antlitz, das Liverpools Fans verzückte. Torres stürmte wie ein fideler Jungspund, der das Fußballfeld als Spielplatz begreift. Er hatte Spaß und machte Spaß, und wenn er im Überschwang auf Knien zur Bande rutschte, tobte Anfield. Neben Steven Gerrard und Jamie Carragher war der Iberer ein Faktor für Identität.
Torres konnte nicht wissen, dass er 2008 und 2009 auf seinem persönlichen Höhepunkt tänzelte. Plötzlich lernte er die Schattenseiten seines Berufs kennen: Verletzungen, Schmerzen, Krisen. Im WM-Jahr 2010 reichten ihm 22 Spiele zwar für 18 Tore, aber irgendwann verstummte das Lachen. Die ständigen Knieprobleme wurden erst lästig, dann latent, dann trügerisch.
Früh am Zenit
Als Chelsea im Januar 2011 eine 58-Millionen-Euro-Überweisung nach Liverpool tätigte, tickte Torres' biologische Uhr rückwärts. Er war 26, sollte pro Woche 220.000 Euro verdienen und Chelsea zum Champions-League-Sieg schießen. "Ich bin am Top-Level und bereit für die Herausforderung", strahlte er im vereinseigenen Kanal. Chelseas Chairman Bruce Buck gluckste - sichtlich euphorisiert - vom Stürmer, "der seine besten Jahre noch vor sich hat."
Genau das Gegenteil trat ein. Knie-Operationen hatten merklich an der Konstitution des Toreros genagt, dafür lieferte bereits die Liverpooler Endphase Indikatoren. Dass sich Torres in der rauen Londoner Luft zu einer Karikatur seiner selbst verformte, lag an einem Zirkel aus physischen und psychischen Komponenten. Es fing bei seiner Premiere an, Liverpool gastierte an der Bridge, wieder tobten die Fans, aber diesmal vor Wut. Torres tauchte unter, Chelsea verlor 0:1.
Der Spanier war nicht mehr derselbe, auch im Nationalteam nicht. 2012 wurde er noch einmal Torschützenkönig der Europameisterschaft, mit drei Treffern. Doch weil der Körper das Kapital ist, hatte Torres seinen Zenit weitaus eher als andere überschritten. Mit jedem torlosen Spiel potenzierte sich der Druck aus Ablöse, Gehalt und Erwartungen zu einer Bleiweste. Dass Torres im Old Trafford einmal das leere Gehäuse verfehlte, erleichterte die Sache nicht wirklich.
"I was there when Torers scored"
Wie Aasgeier stürzte sich der dankbare britische Boulevard auf derlei Vorlagen. Fans verkauften T-Shirts mit der Aufschrift "I was there when Torres scored". Mourinho rätselte: "Vielleicht ist es mit seinem Selbstvertrauen nicht zum Besten bestellt. Alle Augen ruhen auf ihm, und wenn er das Tor nicht trifft, denkt jeder daran."
Die Ironie am Schlamassel war der Erfolg der Gruppe. Torres holte mit Chelsea die dicksten Pokale, die Champions League 2012 in München, die Europa League im Folgejahr. Er steuerte sechs Tore bei, aber wen interessierte das schon? Die Öffentlichkeit hatte ihr Bild gezeichnet, Torres kritzelte Liga-Lethargie dazu.
Die blondgesträhnte Mähne, die einst mit einem Band gebändigt wurde, ist einem Kurzhaarschnitt gewichen. Torres strahlt Seriosität aus. Dabei wäre es gerade die kindliche Leichtigkeit vergangener Tage, die "El Nino" helfen könnte. Die Serie A soll zum Kur-Ort für den 30-Jährigen werden, wobei der Verweis auf neue Chancen in neuer Umgebung zu undifferenziert wäre. Es wird in besonderem Maße darum gehen, Torres' Vorzüge zu betonen. Inzaghi impft Milan ein 4-3-3 mit klassischem Mittelstürmer ein; dieses Revier muss Torres bunkern, flankiert von Stephan El Shaarawy, Jeremy Menez oder Keisuke Honda.
Fehler im System
Bei Chelsea fungierte er oft als Prellbock mit dem Rücken zum Tor, der Bälle sichern und Räume freischaufeln sollte. Das beschnitt seinen Aktionsradius. "In Liverpool war er der Hauptstürmer, der den Ball vorgelegt bekam. Chelseas Stürmer erzwingen sich ihre Chancen selbst. Das ist Torres nicht gewohnt, und sie sind ihn nicht gewohnt", erläuterte Englands Ex-Nationaltrainer Graham Taylor.
Sein vormaliger Chelsea-Kollege Demba Ba wünscht Torres, glücklich zu werden. "Ich weiß nicht, wo das sein wird, aber ich wünsche es ihm, weil er ein toller Kerl ist." Blüht der Spanier in Italien auf, wäre es die wundersame Rückkehr des Goalgetters, der mit juvenilem Charme und roten Backen in Jubeltrauben versinkt. Und vielleicht am Daumen lutscht, wer weiß, immerhin ist er zweifacher Familienvater.
Nur ein Sprintduell mit dem deutschen Nationalspieler Philipp Lahm wird Fernando Torres nicht mehr gewinnen. Aus vielerlei Gründen.
Fernando Torres im Steckbrief