Totale Organisation

Von Christian Bernhard
Meister Juventus Turin führt die Tabelle der Serie vor dem SSC Neapel und Lazio Rom an
© Getty

Juventus Turin hat - abgesehen von Andrea Pirlo und Gianluigi Buffon - keine sogenannten Topstars. Und trotzdem ist die alte Dame auf gutem Weg, eine neue Erfolgs-Ära zu prägen. Was macht dieses Team so stark?

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Es ist die klassische Situation nach einem Juventus-Spiel: Antonio Conte steht bei den Fernseh-Reportern, fein gekleidet in Anzug und Krawatte, alles sitzt wie angegossen. Dann kommen die Fragen, und Conte ist kaum zu verstehen.

Nicht etwa, weil er per se undeutlich spricht oder seinen süditalienischen Akzent nicht verbergen kann. Nein, Conte ist schlicht heiser. Sehr heiser.

Während des Spiels strapaziert Conte seine Stimmbänder so sehr über, dass er danach kaum noch einen Ton herausbekommt, manchmal ist die Stimme sogar komplett weg, dann muss sein Co-Trainer Angelo Alessio zur Pressekonferenz.

"Antonio lebt das Spiel eben auf sehr leidenschaftliche Art und Weise", sagt Alessio.

Juventino durch und durch

Conte geht in seinem Trainer-Dasein voll auf. Und er verkörpert Juventus, wie kaum ein anderer. Zwischen 1991 und 2004 bestritt er knapp 300 Spiele für die Bianconeri, fünf Jahre lang trug er die Kapitänsbinde.

Familiär bedingt ist Conte Juventino durch und durch, sein Vater war Präsident des Vereins "Juventina Lecce".

Conte, dieser ehemals nur bedingt talentierte Mittelfeldspieler, hat "seinem" Verein den Erfolg zurückgebracht. Vergangene Saison gewannen die Turiner ungeschlagen den Scudetto, aktuell führen sie die Serie-A-Tabelle erneut souverän an.

Und die mit Titelverteidiger Chelsea und Donezk stark besetzte Champions-League-Vorrundengruppe E schlossen sie auf Rang eins ab. Ebenfalls ungeschlagen.

Contes Juve so stark wie die Wunderelf

94 Liga-Punkte hat Contes Mannschaft im Kalenderjahr 2012 eingefahren und damit sogar das Juve-Team der Saison 2004/05 überflügelt. "Und jetzt schaut euch mal an, wie der Kader jener Mannschaft aussah", sagte Conte, nachdem er die 93 Punkte des damaligen Teams von Fabio Capello getoppt hatte.

Ein kurzer Blick in die Annalen verrät: Den Sturm bildeten damals die Herren David Trezeguet, Zlatan Ibrahimovic, Alessandro Del Piero und Adrian Mutu, dazu gesellten sich Kaliber namens Pavel Nedved, Fabio Cannavaro und Lilian Thuram.

Sieben Spieler aus diesem Team sollten sich ein Jahr später im Berliner WM-Finale zwischen Italien und Frankreich gegenüberstehen, es gilt, da sind sich die Szenekenner einig, als eines der besten der langen Vereinsgeschichte von Juventus.

"Wir erstzen das 'Ich' durch 'Wir'"

Die heutige Juve-Mannschaft hat - abgesehen von Andrea Pirlo und Gianluigi Buffon - keine sogenannten Topstars. Und trotzdem ist sie auf gutem Wege, eine neue Ära zu prägen. Was macht dieses Team also so stark?

"Diese Mannschaft hat eine tolle Organisation", sagt Conte. "Jeder weiß, was er zu machen hat." Jeder einzelne Spieler habe seine Spielidee voll aufgesaugt, betont der 43-Jährige, "alle ersetzen das 'Ich' durch das 'Wir'".

Für Conte ist das die "herausragende" Qualität dieses Teams, zusammen mit dem Charakter, der Spielorganisation und der guten körperlichen Verfassung. Contes Credo: Unser Erfolg hängt von der Spielweise, nicht vom einzelnen Spieler ab.

Der Juve-Coach hat sich innerhalb kurzer Zeit viel Respekt erarbeitet, Italiens Nationaltrainer Cesare Prandelli sieht in ihm sogar schon einen Innovator der italienischen Trainerzunft: "Conte hat es innerhalb eines Jahres geschafft, nicht nur die Mentalität, sondern auch die Arbeitskultur zu verändern."

Prandelli und Conte schätzen sich sehr, der Nationalcoach bezeichnet die Arbeit seines Kollegen als "herausragend" und beschreibt sie anhand von vier Parametern: "Totale Organisation, Leidensfähigkeit, Entschlossenheit und Konzentration."

Juve Vorbild für die Squadra Azzurra

Juventus habe eine Mentalität auf den Weg gebracht, die er dem gesamten Jugendsektor übermitteln wolle, betont Prandelli: "Jene, wonach man mit harter Arbeit und einem Programm das Fehlen von Top-Spielern ausgleichen kann."

Conte verlangt von seinen Spielern komplette Hingabe in jeder Trainingseinheit, stimmt der Einsatz nicht, wird er schnell ungemütlich. "Gut möglich, dass es einzeln gesehen bessere Verteidiger als uns gibt", sagt der Ex-Wolfsburger Andrea Barzagli, "aber im heutigen Fußball ist Organisation alles, und wir sind sehr gut organisiert."

Taktisch gesehen ist Juves zentrales Merkmal das Miteinschalten der zwei Mittelfeld-Halbspieler in den Angriff. "Unser Spiel ist es, die Vorstöße der Mittelfeldspieler auszunutzen", sagt Massimo Carrera, der die gesperrten Conte und Alessio zu Beginn der Saison auf der Trainerbank ersetzt hatte.

"Unsere Stürmer leisten große Arbeit und helfen uns sehr beim frühen Pressing. Sie schaffen die Freiräume für uns Mittelfeldspieler", sagt Claudio Marchisio, der analog zu Arturo Vidal wie gemacht dafür ist, regelmäßig in die freien Räume zu stoßen - sowohl im meist praktizierten 3-5-2- als auch im 4-3-3-System.

Barca, Real, Bayern - dann Juve

Dieser dynamische und aggressive calcio begeistert in Italien die Experten, auch Arrigo Sacchi gefällt, was Conte auf die Beine gestellt hat.

Der 66-Jährige, der Ende der 80er-Jahre mit dem AC Milan eine Revolution im Weltfußball ausgelöst hat, sagt: "Contes Mannschaft vereint alle Elemente des modernen Fußballs, sie ist kompakt, gut organisiert und versteht sich blind." Laut Sacchi ist Juve "eines der interessantesten Fußball-Kollektive Europas".

Dieses Kollektiv nimmt nun die Champions League ins Visier. "Wie Gigi (Buffon, d. Red.) gerne sagt: ‚Es kommt nicht darauf an, der Stärkste zu sein, sondern im richtigen Moment der Beste'", sagt Barzagli.

Barca, Real und die Bayern seien einen Schritt voraus, sagt der Verteidiger, aber Juve müsse sich nicht verstecken: "Wir stehen im Achtelfinale, jetzt kann alles passieren. Träumen kostet nichts."

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