Die Allianz Arena ist beinahe bis auf den letzten Platz gefüllt, die Stimmung ausgelassen. Die großen Bayern sind da, der Philipp, der Bastian, es gibt Bier und Bratwurst. La Ola schwappt durchs Rund. Nur den einen Spieler dort unten, den im weißen Trikot mit der Nummer 27, den mag die Allianz Arena nicht. Kevin-Prince Boateng wird bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen.
"Es gibt eben Stadien, in denen mich die Menschen nicht so doll mögen", sagt Boateng nach dem Audi-Cup-Spiel gegen den FC Bayern in der Interviewzone. Er sieht aus wie einer, vor dem Mutti immer gewarnt hat. Er spricht wie einer, der deswegen schon viel einstecken musste. "Es ist im Fußball eben so: Man kann nicht von jedem gemocht werden", sagt er mit fester Stimme, lächelt dabei aber ein wenig verlegen.
Boateng, der Capitano-Treter
"Career defining moment" nennt der Engländer Aktionen, die einen Sportprofi für immer definieren. Im Idealfall sind es brillante Dinge. Jürgen Klinsmanns irrwitzige Laufleistung gegen Holland bei der WM 1990, beispielsweise. Lars Rickens Heber im Champions-League-Finale 1997. Uli Steins Faustschlag gegen Jürgen Wegmann 1987 gilt als Negativ-Beispiel. Oder Eric Cantonas Kung-Fu-Tritt gegen einen Fan acht Jahre später, inklusive legendärer Pressekonferenz.
Aus Sicht der Deutschen wird es für Kevin-Prince Boateng wohl immer das Foul an Michael Ballack am 15. Mai 2010 im FA-Cup-Finale bleiben. Boateng, der Capitano-Treter. Deswegen pfeift sich die Allianz Arena 14 Monate später immer noch leidenschaftlich die Seele aus dem Hals.
Dabei bezeichnet Boateng den 15. Mai 2010 als seinen ganz persönlichen Wendepunkt. "Seit einem Jahr gibt es den neuen Prince", sagte er im Mai der "Sport-Bild". "Ich wollte mich nicht beschimpfen und fertigmachen lassen. Da war für mich klar: Ich will es allen zeigen. Ich habe eine neue Karriere gestartet und bin erwachsen geworden."
Was man gerne vergisst: Boateng ist gerade mal 24 Jahre alt und hat den Großteil seiner Profi-Karriere noch vor sich. Hinter sich hat der Sohn einer Deutschen und eines Ghanaers bereits zwei Profi-Stationen in England. Er stand in einem WM-Viertelfinale und spielt aktuell für den AC Milan, das Aushängeschild des italienischen Fußballs. Und er spielt dort so gut, dass er sich Stammspieler der Meisterelf 2011 nennen darf.
"Ich fühle mich pudelwohl"
In Italien hat sich Boateng darüber hinaus ein ganz anders Image als in Deutschland aufgebaut. Auf dem Platz, versteht sich. "In Italien spricht man nur über meine fußballerischen Leistungen", sagt er nicht ohne Stolz.
Ansonsten wird höchstens mal über Boatengs auffällige Tattoos berichtet und über seinen Moonwalk, den der Michael-Jackson-Fan nach dem Gewinn der Meisterschaft mitten in San Siro geschmeidig aufs eigens dafür verlegte Parkett zauberte. "Ich fühle mich pudelwohl, habe viele Freunde gefunden. Ich mag die Stadt", sagt er. Und bietet ansonsten auch kaum Anlass zu Tadel.
Dass es überhaupt soweit kam, hatte er in erster Linie dem blinden Vertrauen von Milan-Coach Massimiliano Allegri zu verdanken, der ihn nach der WM direkt nach Milanello lotste. Das heißt: eigentlich indirekt. Der FC Genua hatte sich Boatengs Unterschrift zuerst gesichert, gab ihn dann aber prompt als Leihgabe an die Mailänder weiter, weil diese gar so heftig buhlten.
"Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte: 'Hey, Du wechselst jetzt zu Milan, gewinnst den Scudetto und wirst zum Idol der Fans' - ich hätte ihn gefragt, welche Drogen er nimmt", sagte Boateng unlängst in einem bemerkenswerten Interview mit der "Gazzetta dello Sport". Nach 26 Einsätzen, 18 davon von Beginn an, hat in Milan mittlerweile voll unter Vertrag genommen.
Boateng als Platzhirsch auf der Zehn
Für die kommende Saison gilt Boateng nun auch als Platzhirsch auf der Position hinter den Spitzen. In Allegris 4-3-1-2 hat er sich einen Status erarbeitet, den andere erst einholen müssen. Die Milan-Institution Andrea Pirlo ist jedenfalls nicht mehr da, verkauft an Juventus. Boatengs Ziel für die kommende Spielzeit ist ambitioniert, aber nicht zu hoch gehängt: "Ich versuche einfach, noch mal so eine gute Saison hinzulegen."
Dafür hat Boateng bereits einiges in Kauf genommen. In Mailand integrierte er sich erstmals ohne Murren, stellte sein Ego hinter das Team an. Heute sagt er selbstkritisch: "Als ich zu Milan kam, war ich dick. Ich wog 90 Kilo und mein Berater sagte mir: 'Junge, so wird das nicht funktionieren.'" Jetzt wiegt er sechs Kilo weniger.
Eine nette Anekdote: Es gibt da ein Foto von ihm aus seiner Zeit beim FC Portsmouth. Nach einem Treffer gegen seinen Ex-Klub Tottenham Hotspur zog Boateng beim Jubeln das Trikot aus. "Als ich das neulich sah, dachte ich mir: 'Gott, wie dick warst Du denn damals?'" Schön, dass er heute darüber lachen kann.
Nach rastlosen Jahren scheint Boateng nun angekommen zu sein. Es klingt jedenfalls so. "Ich bin am richtigen Ort, in der richtigen Mannschaft mit den richtigen Mitspielern." Und wer weiß, vielleicht geht ja noch mehr. "Natürlich versuche ich, mit harter Arbeit einer der besten Spieler der Welt zu werden. Was sonst, wäre ich sonst Profi?"
"Was für ein arroganter Bastard"
Dass seine Karriere einen solch positiven Verlauf genommen hat, habe er erst jetzt im Sommerurlaub so richtig realisiert. Wie wundervoll es ist, Kindern ein Idol zu sein. "Vorher hätten die Eltern vielleicht gesagt: 'Er hat in der Vergangenheit einige dumme Dinge getan, er ist tätowiert, er kann kein Vorbild sein.'" In Italien hätten die Leute nun aber gesehen, wie er wirklich ist - nämlich nicht der Bad Boy, auf den er in Deutschland gerne reduziert wird, hätte er noch hinzufügen können.
Was Boateng gelernt hat - und gleichsam verkörpert: "Reduziere niemanden auf sein Äußeres." Zlatan Ibrahimovic kannte er vor der letzten Saison beispielsweise nur aus dem Fernsehen - und hatte keinen guten Eindruck von ihm. "Ich dachte immer: 'Was für ein arroganter Bastard.' In Wahrheit ist er aber ein außergewöhnlich netter und lustiger Kerl", berichtete Boateng der "Gazzetta".
Er selbst trägt plakativ seinen Mittelnamen "Prince" auf dem Trikot, aus dem aus allen Enden Tattoos herausquellen. Wie reflektiert Boateng jedoch mittlerweile mit seinem Image umgehen kann, stellte er vor kurzem unter Beweis.
Was ihm denn im Leben am Wichtigsten sei, wurde er gefragt. "Meine Tattoos vielleicht? Nein, nur Spaß", antwortete Boateng. Und im Ernst: "Ich glaube, am wichtigsten ist mir, glücklich zu sein und dass alle Menschen um mich herum glücklich sind."
Schwerer Stand in Deutschland
Boateng, der Harmonie-Mensch? Es wirkt befremdlich. Seiner Meinung nach beschweren sich die Leute heutzutage viel zu oft. "Natürlich sagen jetzt viele: Ich bin Fußball-Profi, ich verdiene viel Geld, ich rede mich leicht. Aber wenn man abends nach Hause kommt und seine Familie um sich hat und ein warmes Essen auf dem Tisch, dann sollte man glücklich sein." Er lebt sein Leben lieber mit einem Lächeln auf den Lippen. "Ich halte es so - und es funktioniert."
Für die breite deutsche Öffentlichkeit ist Boateng dennoch eine persona non grata. Vor allem wegen Ballack. Vielleicht auch, weil er sich für Ghanas Nationalteam entschied, obwohl er zuvor für deutsche U-Mannschaften auflief. "Ich liebe Deutschland, ich wurde hier geboren, es ist immer schön, wieder zu kommen", sagt er in den Katakomben der Allianz Arena.
Man kann nur erahnen, wie es sich wohl anfühlt, in seiner Heimat nicht Willkommen zu sein. Natürlich hat Boateng sein Scherflein dazu beigetragen. Man kennt die Geschichten aus Berlin, wo er als junger Spieler erstmals Bundesliga-Luft schnuppern durfte, sich neben dem Platz aber schon aufführt haben soll, als wäre er ein dreimaliger Weltfußballer.
Von Hoeneß zu Mandela
Der ehemalige Hertha-Manager Dieter Hoeneß nimmt seinen Namen heute noch gerne in den Mund, wenn er davon spricht, dass Jugendfußballer mehr als Talent mitbringen müssen. Gute Kinderstube und Demut zum Beispiel. "Er kann solche Dinge einfach nicht lassen. So etwas ist wirklich sehr, sehr ärgerlich", sagte Hoeneß nach dem Ballack-Foul und führte an, Boateng stünde sich immer wieder selbst im Weg: "Der Wesenszug gehört zu ihm. Dabei ist er mit Talent gesegnet."
Das alles weiß keiner so gut, wie Boateng selbst. Nur hat er nun vielleicht gelernt, damit umzugehen. Mit Ghanas Nationalmannschaft war er im letzten Jahr bei Nelson Mandela zu Gast. Der bot Boateng gleich seine eigene Enkelin als Ehefrau an.
"Das war natürlich nur ein Witz", stellt Boateng klar. Er verriet Mandela trotzdem vorsorglich, dass er bereits verheiratet sei. "Ich habe noch nie einem Menschen getroffen, der einen solchen Frieden ausstrahlte, wie Mandela", sagt Boateng heute. "Es war mir eine absolute Ehre, ihm die Hand zu schütteln und mit ihm ein wenig plaudern zu dürfen."
Dass die Deutschen etwas ähnliches später auch mal über Boateng sagen, ist mit Sicherheit zu hoch gegriffen. Aber vielleicht erinnert man sich beim Namen Kevin-Prince Boateng eines Tages an einen Fußballer, der sein schlechtes Image besiegte - und nicht nur an den Capitano-Treter.
Kevin-Prince Boateng im Steckbrief