Federico Chiesas Wechsel zum FC Liverpool: Risiko oder Muss-Transfer?

Von Mark Doyle / Filippo Cataldo
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Federico Chiesa hat Juventus nach vier Jahren verlassen und ist zu einem anderen Weltklasseklub gewechselt - für eine fast lachhaft niedrige Summe.

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Federico Chiesa war gerade 22 Jahre alt, als er Italien bei der Euro 2021 zum Sieg führte. Dem Spieler, der gerade eine brillante Debütsaison bei Juventus hinter sich hatte, winkte der Status Superstar.

Alessio Tacchinardi gehörte zu denjenigen, die ihm den Ballon d'Or "in drei oder vier Jahren" zutrauten. Immer wieder wurde er auch mit dem FC Bayern München in Verbindung gebracht, seit der frühere Vorstandsvorsitzende freimütig bekannt hatte, er möge diesen Chiesa sehr.

Leider hat sich Chiesas Karriere seitdem in eine ganz andere Richtung entwickelt. Der erwartete Anführer der Nach-Cristiano-Ronaldo-Ära bei Juventus Turin wurde vom neuen Trainer Thiago Motta als überflüssig eingestuft und aufgefordert, sich "so schnell wie möglich einen neuen Verein zu suchen", der Vorstand der Bianconeri wollte den Spieler mit nur einem Jahr Restlaufzeit unbedingt loswerden.

In der Tat war Juve so verzweifelt, seinen einst 60 Millionen Euro teuren Neuzugang von der Fiorentina im Jahr 2020 zu verkaufen, dass man bereit war, ihn für weniger als ein Viertel der Ablösesumme loszuwerden. Bemerkenswerterweise gab es für Chiesa nur sehr wenige Interessenten - zumindest in der europäischen Elite -, da viele Klubs offenbar von seiner jüngsten Verletzungshistorie abgeschreckt wurden.

Doch weniger als 48 Stunden vor dem Ende der sommerlichen Transferperiode verpflichtete Liverpool den Flügelspieler - für rund 13 Millionen Euro, ein wahrer Schnäppchenpreis, nicht nur für englische Verhältnisse. Es ist ein überraschender und in gewisser Weise seltsamer Schritt, aber er könnte sich als die Verpflichtung der Saison erweisen.

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Julian Nagelsmann fand Federico Chiesa "außergewöhnlich"

Nach seinen Heldentaten in Wembley bei der EM vor drei Jahren, zunächst gegen Spanien und dann beim Finalsieg Italiens gegen England, war Chiesa einer der begehrtesten Spieler im Weltfußball. Bayern München war sehr interessiert, der damalige Trainer Julian Nagelsmann teilte Rummenigges Bewunderung für Chiesa. Er machte keinen Hehl aus seinem Interesse. "Ich kenne Chiesa schon lange", sagte er, "und ich finde ihn außergewöhnlich, weil er oft ins Eins-gegen-Eins geht und dann versucht, sehr schnell zu schießen."

Es war sogar die Rede davon, dass die Bayern 100 Millionen Euro für seine Dienste bieten würden, aber für Juve war Chiesa unverkäuflich damals. Er sollte der Eckpfeiler eines neuen Projekts werden, der schillernde Dribbler, der Ronaldos Arbeitsmoral bewunderte und ein ähnliches Talent entwickelt hatte, gerade in den wichtigsten Spielen aufzutrumpfen.

"Als er zu Juve kam, hätte ich nicht gedacht, dass er so gut ist, um ehrlich zu sein, aber wenn man so etwas auf so hohem Niveau macht, dann bedeutet das, dass man wirklich etwas Besonderes ist", sagte damals Torwart Gigi Buffon.

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Verletzungen und Opfer von Allegris Anti-Fußball

Die Entwicklung von Chiesa wurde jedoch von einigen Faktoren stark ausgebremst. Nicht nur, dass er von ständigen Verletzungen geplagt wurde - zwischen September 2021 und Januar 2024 fiel Chiesa 17-mal aus -, er hatte auch das Pech, den Großteil seiner Zeit in Turin Massimiliano Allegri als Trainer zu haben.

In seiner ersten Saison bei Juve unter Andrea Pirlo erzielte Chiesa 14 Tore, in Allegris dreijähriger Amtszeit waren es nur 18. Der drastische Rückgang kann teilweise auf den Kreuzbandriss zurückgeführt werden, den er sich im Januar 2022 zuzog und der ihn zehn Monate außer Gefecht setzte, aber Allegris taktische Ideen - oder besser: Nicht-Ideen - haben Chiesa ebenso zu schaffen gemacht.

Juve war in fast jedem Spiel von Allegris zweiter Amtszeit in Turin unansehnlich, da der Trainer beim größten Klub des Landes eine eher provinzielle Mentalität an den Tag legte. Das Ergebnis war, dass talentierte Spieler in einem System, das nicht zu ihren Fähigkeiten passte, völlig vergeudet wurden. Dusan Vlahovic zum Beispiel wurde so oft völlig isoliert, dass die Spiele nur so an ihm vorbeiflogen.

Chiesa war jedoch das größte Opfer von Allegris Anti-Fußball. Einer der aufregendsten Flügelspieler der Welt wurde immer wieder als zentraler Angreifer eingesetzt, und jedes Mal, wenn er auf die Flügel ausbrach, konnte man Allegri dabei beobachten, wie er Chiesa anschrie, er solle zurück in die Mitte gehen.

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Auch Mottas Ankunft keine gute Nachricht für Chiesa

Vor diesem Hintergrund wäre Allegris längst überfällige Entlassung eine gute Nachricht für Chiesa gewesen, zumal der Nachfolger des mürrischen Toskaners, Thiago Motta, ein weitaus progressiverer Trainer ist. Dieser setzte in seiner sensationellen Zeit bei Bologna, die mit der erstmaligen Qualifikation der Rossoblu für die Champions League endete, stark auf Flügelspieler.

Die Bianconeri haben unter ihrem neuen Trainer einen perfekten Start in die neue Serie-A-Saison hingelegt. Samuel Mbangula, Andrea Cambiaso und Timothy Weah beeindrucken in Mottas 4-2-3-1-Formation auf den Außenbahnen. Doch bei allem Respekt vor diesen drei Spielern: Keiner von ihnen ist auch nur annähernd so talentiert wie Chiesa.

Und doch spielte Chiesa keine Rolle in den Planungen - auch, weil er selbst nicht mitspielte. Schließlich wollten die Bianconeri seinen Vertrag durchaus verlängern - allerdings zu den gleichen Konditionen wie bei seinem letzten Engagement. Chiesas Agent hat Behauptungen zurückgewiesen, dass er eine deutliche Gehaltserhöhung für seinen Klienten anstrebte, aber es ist klar, dass die beiden Parteien sehr unterschiedliche Ansichten über seinen Wert hatten, so dass eine Trennung unvermeidlich war.

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Ist Chiesa nicht fit - oder das Schnäppchen des Sommers?

Daniele De Rossi soll sich bei der Roma für Chiesa stark gemacht haben, aber in der Hauptstadt ist das Geld knapp und die Giallorossi waren auch nicht in der Lage, dem Angreifer Champions-League-Fußball anzubieten.

Der FC Barcelona war zwar interessiert, aber die Katalanen schieden aufgrund ihrer eigenen Geldprobleme aus dem Rennen um den begehrten Linksaußen aus. Barcelonas Rückzug ebnete Liverpool den Weg für eine "opportunistische" Verpflichtung, von der Richard Hughes kurz nach seiner Ankunft als neuer Sportdirektor des Klubs gesprochen hatte.

Es ist nicht verwunderlich, dass der Deal auch mit einiger Skepsis betrachtet wird, die vor allem mit der Fitness von Chiesa zusammenhängt. Allerdings hat Chiesa in der vergangenen Saison 33 von 38 Serie-A-Spielen bestritten - so viele wie noch nie in einer einzigen Saison für Juve.

Außerdem erzielte er in allen Wettbewerben zehn Tore und kreierte mehr Chancen (61) und Dribblings (39) als jeder andere Juve-Spieler. Es spricht also Einiges dafür, dass sich Chiesa tatsächlich vollständig von seinem Kreuzbandriss erholt hat - und dass er der Schnäppchentransfer des Sommers sein könnte.

"Die Verletzung hat meine Karriere verlangsamt, aber ich habe viel daraus gelernt", sagte Chiesa zu France Football nach seiner Wahl zum Spieler des Spiels bei der Euro 2024 gegen Albanien. "Vorher war ich wahrscheinlich ein instinktiverer, impulsiverer Spieler, und vielleicht hat sich mein Spiel ein wenig verändert - aber nicht meine Geschwindigkeit. Jetzt bin ich wieder auf dem Niveau, auf dem ich vor der Verletzung war."

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Wie passt Chiesa an die Anfield Road?

Natürlich fragen sich viele interessierte Beobachter, wie ein wiedergenesener Chiesa in Anfield eingesetzt werden kann. Wenn es einen Bereich gibt, in dem Liverpool gut besetzt ist, dann sind es die Außenbahnen. Die Flügelspieler Mohamed Salah und Luis Diaz sind sensationell in die Saison gestartet. Auch Cody Gakpo, Darwin Nunez und Diogo Jota sind in der Lage, auf den Flanken zu spielen. Im Fall von Gakpo ist der linke Flügel wahrscheinlich seine beste Position - und dasselbe gilt für Chiesa.

Einige Fans fragen sich daher, warum Hughes und Co. die letzte Woche des Transferfensters damit verbracht haben, einen weiteren Außenstürmer zu verpflichten, obwohl der Kader noch immer nach einem echten Sechser und einem linksfüßigen Innenverteidiger schreit.

Die Frage ist sicherlich berechtigt, aber wie bei dem einzigen anderen Deal, den Liverpool in diesem Sommer abgeschlossen hat, nämlich Giorgi Mamardashvili, der nächstes Jahr von Valencia kommt, könnte Hughes hier vorausplanen. Salahs Vertrag läuft am Ende der Saison aus, und obwohl die Hoffnungen groß sind, dass der Ägypter irgendwann eine Vertragsverlängerung unterschreibt, könnten die Reds Chiesa als kostengünstigen Ausweichplan betrachten.

Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass mindestens ein Mitglied des Liverpooler Angriffs eher früher als später den Verein verlassen wird, sei es Salah oder jemand anderes. Diaz wird seit langem mit einem Wechsel nach Spanien in Verbindung gebracht, während Nunez nicht glücklich darüber sein kann, dass er diese Saison so begonnen hat, wie er die letzte beendet hat: auf der Bank.

Italien kann heute den Einzug ins Viertelfinale feiern.
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Chiesa ein Risiko? Nein, eher ein Muss-Transfer

In Anbetracht der Ungewissheit über die Stürmerstars ergibt die Verpflichtung von Chiesa für den FC Liverpool sehr viel Sinn. Die Liverpooler haben einen früheren Europameister geholt, der in der letzten Saison Anzeichen dafür zeigte, dass er seine beste Form wiedergefunden hat - und das für das gleiche Geld, das man vor zwölf Jahren für einen gewissen Fabio Borini an Swansea gezahlt hat.

Vor diesem Hintergrund könnte Hughes zu Recht argumentieren, dass die Verpflichtung von Chiesa kein Risiko war, das es sich lohnt einzugehen, sondern ein reiner No-Brainer.

Es ist selten, dass ein Spitzentalent, das einst als 100-Millionen-Euro-Spieler gehandelt wurde, in den besten Jahren seiner Karriere für ein Zehntel dieses Betrags zu haben ist.

Natürlich sind die Vorbehalte wegen Chiesas Verletzungsprobleme nicht unberechtigt, aber er kommt mit einem bereits beeindruckenden Niveau und mehr als genug Fähigkeiten und Motivation nach Anfield, um die Frustration der letzten drei Jahre endgültig hinter sich zu lassen.

Liverpool hat vielleicht keinen zukünftigen Ballon d'Or-Gewinner verpflichtet, aber es hat eben vielleicht das größte Schnäppchen des Sommers gemacht.

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