"Entschuldigung, wenn wir heute Nacht einige Bestellungen verfehlt haben, wir hatten diesen Mann in der Startelf", postete der Twitter-Account der Pizza-Kette Domino's nach der 1:3-Niederlage Liverpools gegen den FC Brentford am 19. Spieltag der Premier League. Zusammen mit einem Bild von Darwin Núñez. Wer seinen Namen bei YouTube sucht, findet etwa Videos wie "Jede verpasste Chance von Núñez". Der Stürmer der Reds ist mit seinen vergebenen Chancen längst zu einem Meme geworden.
Selbst Liverpool-Trainer Jürgen Klopp kann seine Frustration über Núñez' Abschlüsse nicht immer verbergen. "Wir kassieren das erste Tor zu einem Zeitpunkt, als wir schon 2:0 führen müssen", erklärte er nach dem Spiel mit Blick auf zwei Großchancen, von denen eine Núñez hatte, "seine Schusstechnik hätte besser sein können". Ist es wirklich nur seine Schusstechnik? Und was unterscheidet die Schusstechnik in dieser Saison von seiner 34-Tore-Saison bei Benfica Lissabon?
Auch die Statistiken zeigen offensichtliche Schwächen bei Núñez' Abschlüssen: Laut Opta ist der Stürmer in den Top-5 der meisten vergebenen expected Goals der Premier League. Zudem vergab er die meisten Großchancen (15) nach Opta-Definition, obwohl er nur in 13 Premier-League-Spielen auf dem Feld stand.
Die Konkurrenz auf Platz zwei (12 vergebene Großchancen, nach Spieltag 19) stand drei Spiele mehr auf dem Feld - Teamkollege Mo Salah sogar vier. Angesichts der hohen Ablösesumme von 75 Millionen Euro stellt sich die Frage: Ist Darwin Núñez bei Liverpool gefloppt?
Der Haaland-Vergleich ist unfair
Zunächst einmal müssen die Grundlagen gelegt werden: Die generelle Zuordnung eines "Flops" schon nach einem halben Jahr für einen Spieler, der das Land wechselte und zum ersten Mal in einer Top-5-Liga aufläuft, ist selten fair. Gerade bei jungen Spielern - Núñez ist erst 23 - geht man in der Regel von einer Anpassungszeit zwischen einem halben und einem Jahr aus, wenn ein Länder- und Sprachenwechsel stattfindet.
Die Ablöse führt zudem unvermeidlich zum Vergleich mit Manchester Citys Top-Transfer Erling Haaland. Seine 33 Tore in den ersten 28 Pflichtspielen für die Citizens wurden die neue Benchmark für einen Star-Stürmer. Besonders aufgrund der geringen Ablöse von nur 60 Millionen Euro.
Doch diese war einer Ausstiegsklausel geschuldet, ansonsten hätte Haaland wohl deutlich mehr gekostet als Núñez. Es kann eben nicht jeder diesen Norweger kaufen - und er hat sich für Pep Guardiola entschieden. Im Haaland-Vergleich hätte derzeit sogar Kylian Mbappé Probleme.
Eine "hässliche Einstellung" sorgte für den Dämpfer
Bereits nach Darwin Núñez' ersten zwei Testspielen gab es Witze über seine Technik, die er jedoch mit einem Viererpack gegen Leipzig zunächst verstummen ließ. Dann startete seine Saison auch erstmal noch sehr erfolgreich. Darwin Núñez traf beim Pflichtspiel-Auftakt im Community Shield gegen Manchester City. Am ersten Premier-League-Spieltag gegen Fulham legte er auf ein Tor sogar noch einen Assist obendrauf, obwohl er nur eingewechselt worden war.
Doch schon hier wurden die technischen Probleme erneut offensichtlich: Drei Minuten nach seinem Treffer zum 1:1 kam er frei vors Tor, verstolperte dann aber die Ballannahme. Und auch seine Vorlage für Mo Salah war eigentlich eine missglückte Ballannahme und keine Absicht. Im nächsten Spiel gegen Crystal Palace dann der Schockmoment: Nach einem Kopf-an-Kopf mit dem Gegenspieler sah er die rote Karte. "Ich bin mir der hässlichen Einstellung bewusst, die ich hatte", schrieb er später in einer Entschuldigung.
Dann folgte die erste Schwächephase des Liverpool-Stürmers. Nach dem torlosen Platzverweis schoss er fünf weitere Spiele kein Tor. Obwohl er in der Zeit 2,0 expected Goals sammelte, etwa durch Großchancen gegen Everton oder die Rangers in der Champions League.
Der Turnaround, der keiner war
Dann schaffte Núñez, was wie der Turnaround wirkte: In zehn Pflichtspielen vor der Winterpause traf er siebenmal, bereitete ein weiteres Tor vor - und das, obwohl er nur fünf expected Goals sammelte. Plötzlich übertraf er also die Erwartungen. Doch aufgrund einer enttäuschenden 1:2-Pleite gegen Leeds, bei der Núñez abermals eine Großchance liegen ließ, blieb die Anerkennung für eine starke Saisonphase weitestgehend aus.
Obwohl es nach der Weltmeisterschaft zunächst danach aussah, als würde der Urugayer seine starke Form beibehalten (zwei Tore im Test gegen Milan, ein Assist im EFL Cup gegen Manchester City), folgte zum Liga-Restart die große Enttäuschung: Satte vier vergebene Großchancen gegen Aston Villa. Zwei weitere gegen Leicester. Nochmal eine bei einer 1:3-Klatsche gegen Brentford. Allein in diesen drei Spielen ließ Núñez laut Opta 2,67 expected Goals auf der Strecke. Das machte auch sein Treffer im folgenden Pokalspiel gegen Wolverhampton nicht wieder gut.
Darum ist Darwin Núñez trotzdem ein Top-Stürmer
Hat das Scouting des FC Liverpool sich von seinen vielen Toren blenden lassen? Das ist unwahrscheinlich. Denn obwohl seine 26 Ligatore 2021/22 bei nur 18,4 expected Goals definitiv den Preis nach oben trieben, besitzt Núñez ganz andere Qualitäten als etwa eine starke Schusstechnik, die Jürgen Klopp und Co. von einem Kauf überzeugten.
Mit 0,66 Toren pro 90 Minuten Spielzeit gehört Núñez laut Opta trotz der vergebenen Chancen noch zu den Top-10-Prozent der Stürmer in den europäischen Top-5-Ligen sowie Champions und Europa League. Ignoriert man Tore durch Strafstöße, rückt er sogar in die Top-5-Prozent vor. Das kommt vor allem daher, dass er sich starke 0,73 expected Goals pro Spiel erarbeitet, Top-2-Prozent in der Vergleichskategorie.
Seine durchschnittlichen 4,86 Abschlüsse pro 90 Minuten sind der absolute Spitzenwert in der Vergleichsgruppe, niemand schießt häufiger. Davon bringt er zwar nicht einmal die Hälfte aufs Tor, doch 2,1 Schüsse aufs Tor pro 90 Minuten liegen aufgrund der Masse immer noch in den Top-2-Prozent (Spitzenwert: Kylian Mbappé mit 2,27).
Darwin Núñez liefert, was er versprochen hat
Das Motto bei Núñez' Abschlüssen lautet also: "Masse statt Klasse". Zusammen mit den expected Assisted Goals, also der Qualität der Torschussvorbereitungen, wo er mit 0,22 pro 90 Minuten ebenfalls in den Top-15-Prozent liegt, ergibt sich das Bild eines Stürmers, das dem von Haaland und Co. nicht im Ansatz gleicht.
Núñez' Stärke und Erfolgsgarant für seine 34-Tore-Saison war nicht der Abschluss, sondern das Kreieren von Abschlusssituationen, der Torerfolg verteilt sich eher zufällig. Das macht er auch beim FC Liverpool weiterhin auf sehr hohem Niveau. Das mag ungewohnt und oft auch frustrierend sein, doch sein Spielertyp war nie ein Geheimnis. Schon bei Benfica blieb er 2021/22 in 21 seiner 41 Pflichtspiele torlos.
Die Eingangsfrage, ob Núñez nun gefloppt sei oder nicht, sollte sich also gar nicht stellen. Der FC Liverpool hat Darwin Núñez gekauft. Und der FC Liverpool hat eben diesen Darwin Núñez gekriegt. Anstatt die Verantwortung beim Spieler zu suchen, könnte die Frage lauten: Haben die Reds zu viel für ihn bezahlt? Oder haben die Reds den falschen Spielertyp eingekauft? Doch selbst wenn: Das hat mit den Leistungen von Darwin Núñez nichts zu tun.