Seit vergangenen Sommer fungiert Fabio Paratici als "Managing Director of Football" von Tottenham Hotspur, in Deutschland würde der Posten Sportdirektor heißen. Der 50-jährige Italiener arbeitet für einen Klub aus der englischen Premier League, bei dem er unter der Regentschaft von Präsident Daniel Levy als aktiver Spieler wohl eher nicht gelandet wäre.
Das liegt natürlich einerseits daran, dass der ehemalige Mittelfeldspieler während seiner aktiven Karriere in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren bestenfalls in der drittklassigen italienischen Serie C kickte. Aber sicherlich auch daran, dass Paratici all seine Klubwechsel - und das waren durchaus einige - stets zu Beginn einer Transferperiode vollzogen hat. Paratici erledigt seine Geschäfte gerne frühzeitig, womit er sich von seinem Vorgesetzten durchaus unterscheidet.
Levy erarbeitete sich seit seiner Amtsübernahme 2001 einen Ruf als unnachgiebiger Transfer-Verhandler und ausgewiesener Last-Minute-Experte. Wenn es bis kurz vor Mitternacht am letzten Transfertag dauert, wird der Transfer eben erst dann abgeschlossen. Im Sommer 2017 verpflichtete Tottenham beispielsweise alle seine fünf Neuzugänge in der letzten Woche der Transferperiode. Und wenn Levy die Konditionen nicht passen, dann kommt eben gar keiner. 2018 holte Tottenham als erster Premier-League-Klub der Geschichte in einer Sommer-Transferperiode keinen einzigen Spieler.
Aus wirtschaftlich-rationaler Sicht ist dieses Vorgehen womöglich berechtigt, in der Fußball-Realität gleichzeitig aber auch problematisch. Tottenhams jeweilige Trainer wussten meist erst beim Ende der Transferperiode, mit welcher Mannschaft sie die anstehende Saison bestreiten würden. Spät verpflichtete Neuzugänge konnten sich außerdem nicht schon während der Vorbereitungen an ihr neues Umfeld gewöhnen.
Tottenham Hotspur verpflichtete bereits sechs Spieler
Jetzt ist alles anders! Es ist gerade mal Mitte Juli, Trainer Antonio Conte hat aber bereits sechs Neuzugänge zur Verfügung. Frühzeitig wurde die Mannschaft auf allen Positionen sinnvoll verstärkt. Für die Abwehr kam Clement Lenglet (27) per Leihe vom FC Barcelona, für das Mittelfeld Yves Bissouma (25) für 29,2 Millionen Euro von Brighton & Hove Albion, für den Sturm der äußerst umworbene Richarlison (25) für 58 Millionen Euro vom FC Everton. Darüber hinaus ergänzten die ablösefreien Ivan Perisic (33) und Ersatzkeeper Fraser Forster (34) den Kader.
Am Dienstag wurde auch noch die Verpflichtung von Rechtsverteidiger Djed Spence (21) für 14,7 Millionen Euro vom FC Middlesbrough bekanntgegeben. Der englische U21-Nationalspieler hatte in der vergangenen Saison per Leihe beim Premier-League-Aufsteiger Nottingham Forest für Furore gesorgt.
Die Transferoffensive trägt die Handschrift von Paratici, dem erst dritten klassischen Sportdirektor der Klubgeschichte. Von 2005 bis 2008 füllte diese Rolle Damien Comolli aus, von 2013 bis 2015 Franco Baldini. Davor, dazwischen und danach kümmerte sich - wie bei so vielen anderen Premier-League-Klubs auch - Präsident Levy in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Trainern, die in England nicht umsonst "Manager" genannt werden, um die Transfergeschäfte.
Paratici und Conte: Wiedervereinigung bei Tottenham
Vergangenen Sommer sah Levy schließlich doch Bedarf an einem neuen Sportdirektor und holte mit Paratici einen äußerst erfahrenen Vertreter seiner Zunft. Nach seinem Karriereende sammelte dieser zunächst erste Erfahrungen bei Sampdoria Genua, 2010 wechselte er schließlich zu Juventus.
Dort avancierte Paratici zum Experten für ablösefreie Transfers, noch bevor diese in Folge der Corona-Pandemie zu einem internationalen Trend wurden. Ohne Ablöse lockte er einst Andrea Pirlo und Paul Pogba nach Turin, später auch Aaron Ramsey, Adrien Rabiot und Emre Can. Naturgemäß standen sie stets schon zum Trainingsauftakt zur Verfügung. Gemeinsam mit Generaldirektor Giuseppe Marotta baute Paratici eine Mannschaft, die nach einer jahrelangen Durststrecke zum italienischen Serienmeister avancierte.
Die ersten drei Scudetti gewann Juve unter Trainer Antonio Conte. Anschließend wechselte er zur italienischen Nationalmannschaft, ehe Conte den FC Chelsea und Inter Mailand zu überraschenden Meistertiteln führte. Nach der Entlassung von Nuno Espirito Santo im vergangenen November holte ihn sein alter Weggefährte Paratici zu Tottenham, wo sie nun gemeinsam die seit einem League Cup von 2008 anhaltende Titeldürre beenden sollen.
Tottenham: Champions-League-Qualifikation und Finanzspritze
Trotz eines Zwischentiefs samt emotional geäußerten Rücktrittsgedanken im Winter führte Conte Tottenham in seiner ersten Halbsaison nach zweijähriger Abstinenz zurück in die Champions League. Möglich machte das eine beachtliche Aufholjagd auf den Lokalrivalen FC Arsenal samt 3:0-Sieg im direkten Duell kurz vor Saisonende. Conte entfachte damit eine Euphorie um Tottenham, wie es sie wohl seit den erfolgreichen Jahren unter Mauricio Pochettino nicht mehr gegeben hat.
Großen Anteil an der erfolgreichen Rückrunde hatte auch Paraticis kluges Vorgehen auf dem Winter-Transfermarkt. Er gab die zuvor enttäuschenden Tanguy Ndombele, Bryan Gil, Dele Alli und Giovani Lo Celso ab und holte dafür Rodrigo Bentancur (26) und Dejan Kulusvski (22) von seinem Ex-Klub Juventus. Beide schlugen voll ein: Bentancur strukturierte das Mittelfeld, Kulusevski kombinierte im Sturm hervorragend mit dem seit Jahren eingespielten Duo Harry Kane und Heung-Min Son.
Nachdem Kane im vergangenen Sommer noch einen Wechsel zu Manchester City in Erwägung gezogen hatte, scheint er wegen der positiven Entwicklungen bei seinem Jugendklub trotz eines angeblichen Interesse des FC Bayern München aktuell keinen Abschied anzustreben. Generell wird Tottenham in diesem Sommer wohl keinen Schlüsselspieler verlieren. Abgegeben wurden bisher nur Steven Bergwijn und Leih-Rückkehrer, Harry Winks und der zuletzt verliehene Ndombele könnten folgen.
Stattdessen soll die Mannschaft mit weiteren Neuzugängen verstärkt werden: Interesse besteht dem Vernehmen nach an Verteidiger Josko Gvardiol von RB Leipzig sowie Stürmer Memphis Depay vom FC Barcelona. Möglich macht diese Transferoffensive eine Finanzspritze der Investmentfirma ENIC, die seit 2001 eine Mehrheit des Klubs besitzt und über Präsident Levy kontrolliert. Umgerechnet rund 176 Millionen Euro stellte ENIC Tottenham in diesem Sommer zur Verfügung. Es ist das erste Mal seit den Jahren unmittelbar nach der Übernahme, dass die Firma aktiv in den Klub investiert.