30 Minuten. Länger dauert es nicht, bis einer der größten Trainer unserer Zeit davon unterrichtet wird, dass er entlassen ist. Carlo Ancelotti hat eben erst mit den Journalisten über die vergangene Saison gesprochen, als die Verantwortlichen des FC Chelsea es ihm eine halbe Stunde nach Abpfiff mitteilen. "Die Verantwortlichen" sind dieser Tage allerdings nur Boten des einen Mannes, der die Geschicke des Vereins mit harter Hand bestimmt: Roman Abramovich.
2011 war das, als Ancelotti seine Koffer an der Stamford Bridge packen musste. Eine 0:1-Niederlage gegen Everton ist das letzte Spiel seiner zweiten Saison beim FC Chelsea - und auch das Ende des Italieners bei den Blues. "Verfehlte Ansprüche", so lautet die Begründung des Klubs. Das klingt so, als habe das Team die Champions-League-Ränge verpasst - doch Chelsea ist Zweiter geworden. Nur Manchester United, gegen das man auch in der Champions League ausgeschieden war, hatte man in der Liga passieren lassen müssen.
Chelsea: Abramovich überwacht das Geschehen eisern
Und damit nicht genug: Ancelotti war in seiner ersten Spielzeit mit den Blues nicht nur Meister geworden, sondern hatte auch das erste Double der Vereinsgeschichte geholt. Die Entscheidung des ehrgeizigen Abramovich, der den Verein mithilfe seiner immensen Investitionen an die Ligaspitze geführt hatte, wird dementsprechend in ganz Europa mit Kopfschütteln und Unverständnis zur Kenntnis genommen. "Sogar an Abramovichs Standards gemessen skrupellos", heißt es bei BBC Sport.
Es ist der Höhepunkt, das Finale einer Beziehung, die vom rigorosen Herrschen Abramovichs über seinen FC Chelsea geprägt ist. Nicht nur, dass der zweite Platz den Ansprüchen des russischen Oligarchen nicht genügt - jede einzelne Niederlage ist für ihn nahezu unverzeihlich. Abramovich hat ausschließlich fürs Gewinnen eingekauft, und das muss Ancelotti in seinen zwei Jahren bei jedem verlorenen Spiel erfahren.
Denn von einem freundschaftlichen Austausch und einer klaren Abgrenzung der Verantwortungsbereiche kann keine Rede sein. Wie Journalist Fabio Caressa von Sky Italia bestätigte, weiß der Trainer schon früh genau, was ihn nach einer der doch eher seltenen Niederlagen seines Teams erwartet: eine SMS des Klubbosses: "Ancelotti hat mir erzählt, dass Abramovich ihn immer angeschrieben hat, wenn sie verloren haben. Immer dieselbe Nachricht."
Bei Niederlagen schreibt Abramovich Ancelotti eine SMS
Muss der Italiener also nach jedem verlorenen Spiel eine Standpauke des Russen lesen? Nicht einmal das. Abramovichs immer wieder gesendete Nachricht ist die wohl kürzeste der Welt, sie beinhaltet nur ein Symbol, das doch so viel aussagt: "Er schickte ihm nur ein Fragezeichen", so Caressa.
Was antwortet nun ein Gentleman wie Ancelotti auf ein simples Satzzeichen, mit dem offensichtlich provoziert werden soll? Haut der Trainer auf den Tisch, wehrt er sich? Nennt er dem Verantwortlichen geduldig Gründe und Rechtfertigungen? Nein, das ist nicht Ancelottis Stil. Und so verwundert es nicht, wie Caressa die Reaktion des Trainers beschreibt: "So genial, wie Carlo eben ist, bestand seine Antwort lediglich aus einem Ausrufezeichen." Alles gesagt.
Chelsea durch Abramovic-Sanktionen am Abgrund
Betrachtet man die Umstände, unter denen der Italiener arbeiten musste, ist der Rauswurf vielleicht sogar eine Erleichterung. Geschadet hat Ancelotti die mit Entsetzen kommentierte Entlassung ohnehin nicht, auch wenn der FC Chelsea im Jahr darauf im Finale Dahoam die Champions League gewinnt. Während der Italiener ein Jahrzehnt später mit Real Madrid den größten Verein der Welt trainiert, stehen die Blues mittlerweile am Abgrund.
Der Grund ist ironischerweise Roman Abramovich selbst, dessen Verbindungen zu Wladimir Putin für beispiellose Sanktionen gegen den Verein gesorgt haben. Ancelotti ist als Gentleman bekannt. Dass er nun Abramovich eine Nachricht mit einem "?" schickt, dürfte unwahrscheinlich sein.