Es gibt eine Geschichte im Trainerleben von Pep Guardiola, die wie kaum eine andere seinen Einfluss auf die Taktik im modernen Fußball veranschaulicht. Sie ereignete sich am 1. Mai 2009. Der Tag, "an dem die Position der falschen Neun erfunden wurde". So zumindest behauptete es Thierry Henry in der Dokumentation "Take the Ball, Pass the Ball" über die Mannschaft des FC Barcelona in den vier Jahren von 2008 bis 2012 mit Guardiola als Cheftrainer.
In der Nacht vor dem Clasico gegen den königlichen Erzrivalen aus Madrid hatte Guardiola seinen Musterschüler Lionel Messi angerufen und zum Trainingsgelände Ciutat Esportiva bestellt. "Er wollte mir sagen, dass wir das System umstellen", antwortete Messi auf die verblüffte, aber berechtigte Frage nach dem Warum. Guardiola hatte in seiner Analyse bemerkt, dass die Innenverteidiger von Real niemals herausrückten, um ins Pressing auf den Mittelstürmer zu gehen. Also zog er Henry und Samuel Eto'o aus dem Zentrum ab, Henry auf die Flügel, Eto'o zwischen Mittelfeld und Abwehr.
Messi sollte sich als falsche Neun immer wieder ins Mittelfeld fallen lassen, um so Verwirrung zu stiften. Der Plan ging auf, Barca überrollte Real mit 6:2, Henry und Messi trafen doppelt. Ein Clasico für die Ewigkeit. Einer, der Fußballgeschichte schrieb. Doktor Guardiola hatte sein polyvalentes Offensivmonster gefunden und dem Weltfußball eine neue Position samt frischem Taktikkonzept geschenkt.
Knapp zwölf Jahre später schuf Guardiola etwas Neues, eine Art Steigerung der falschen Neun. Der Fußball-Doktor hatte in Phil Foden sein neues, vielseitig einsetzbares Monster gefunden. Ob er dieses in der Nacht vor dem Spiel gegen Liverpool wie einst Messi ebenfalls zum Trainingsgelände zitierte, ist nicht überliefert. Wohl nicht. Doch Fakt ist: Wenn Messi die falsche Neun ist, ist Foden seit Sonntag eine noch falschere Neun.
ManCity düpiert Liverpool dank Phil Foden: "Foden ist Gott"
Vier verschiedene Positionen spielte Foden gegen Liverpool und war dennoch an diesem 7. Februar an der Anfield Road an drei von vier Toren direkt beteiligt. Es war ein Tag, der vielleicht nicht ganz so bedeutend für den Weltfußball war wie jener 2. Mai 2009 im Estadio Santiago Bernabeu, aber womöglich den Zeitpunkt markierte, an dem ein 20 Jahre junges Top-Talent aus England den endgültigen Durchbruch schaffte.
Mit acht Jahren kam Foden in die Akademie von Manchester City, schon früh verglichen ihn die Verantwortlichen mit dem jungen Messi. Das berichtete zumindest das Portal The Athletic. Doch im Starensemble von Guardiola langfristig den Durchbruch schaffen? Das war seit der Scheich-Übernahme bei City keinem Eigengewächs mehr gelungen.
Auch Foden schmorte unter dem 50-jährigen Katalanen vergangene Saison bis zum Restart im Mai noch allzu häufig auf der Bank, obwohl Guardiola ihn als "den talentiertesten Spieler, den ich in meiner Trainerkarriere erlebt habe", bezeichnete und einen Verkauf des Juwels von vornherein ausschloss: "Er ist der einzige Spieler, der unter gar keinen Umständen verkauft werden darf. Nicht einmal für 500 Millionen Euro. Phil geht nirgendwohin. Er ist Manchester City."
Dennoch durfte Foden eher selten von Beginn an ran. Ein Politikum in Manchester angesichts der vielen Abgänge von Talenten wie Jadon Sancho (BVB), Angelino (RB Leipzig) oder Brahim Diaz (Real Madrid, verliehen an Milan), die nun bei anderen Klubs in Europa für Furore sorgen.
"Sein einziges Problem ist, dass sein Trainer ihn nicht von Anfang an aufstellt", scherzte Guardiola damals angesprochen auf seinen Umgang mit Foden: "Aber vielleicht ändert sich das bald." Und wie sich das änderte: Foden stand in fünf von sechs Champions-League-Spiele in der Gruppenphase in der Startelf, in beiden FA-Cup-Spielen, in drei von vier League-Cup-Spielen und in der Premier League begann er immerhin in elf von 23 Spielen.
Schon vor dem Spiel in Liverpool war er endgültig angekommen, nur wurde er bis dahin überstrahlt von einem ungewöhnlich torhungrigen und mitunter genialen Ilkay Gündogan (neun Tore seit dem 15. Dezember) oder dem neuen Abwehrriegel um John Stones und Ruben Dias (drei Gegentore in zehn Spielen seit Neujahr). Doch das Spiel am Sonntag war seines und nicht das von Doppelpacker Gündogan oder Tempodribbler Raheem Sterling. "Foden ist Gott", twitterte City-Edelfan Liam Gallagher (Oasis) am Sonntagabend.
Foden-Tor gegen Liverpool: Selbst Klopp findet's "genial"
Nun mag es für so manch streng gläubige Seele etwas blasphemisch daherkommen, einen jungen Fußballer mit dem Allmächtigen gleichzusetzen. Doch Foden spielte halt einfach so, als sei er allmächtig. Begonnen hatte er die Partie als zentraler Stürmer, der sich immer wieder fallen ließ, um Überzahl im City-Mittelfeld herzustellen - mal als Anspielstation, mal als Balleroberer. Doch er gab nicht nur die falsche, sondern auch eine echte Neun.
Beispielhaft: Als Torhüter Ederson zu einem langen Ball gezwungen wurde, ging der 1,71 Meter kleine Foden wie eine Sturmkante ins Luftduell mit dem 1,88 Meter großen Fabinho, schob diesen weg und ging dem Ball im Laufduell mit Liverpools zweitem Innenverteidiger Jordan Henderson hinterher. Zwar entschied Schiedsrichter Michael Oliver auf Foulspiel, doch war das Verhalten Fodens dem eines echten Neuners in dieser Situation sehr ähnlich.
Außerdem tauschte Foden spätestens in der zweiten Halbzeit, nachdem Guardiola vom 4-3-3 auf ein 4-2-3-1-ähnliches System umgestellt hatte, immer wieder die Positionen mit Linksaußen Sterling. Mit der Einwechslung von Gabriel Jesus (72.) wurde Foden dann die Rolle als Rechtsaußen zuteil, wo er seine wohl besten Szenen hatte.
Kurz nach der Umstellung fing er einen verpatzten Alisson-Abschlag ab, ließ Henderson und Robertson stehen und spielte einen perfekten (und einzig möglichen) Pass zu Gündogan, der nur noch einschieben musste. Acht Minuten vor dem Ende wurde er von Gabriel Jesus auf rechts bedient, ging nach sauberer Ballannahme sofort ins Eins-gegen-Eins mit Robertson, ein Haken nach links und ab ins Netz. Knallhart unter die Latte. "Genial", sagte selbst Klopp, der bekanntermaßen das ein oder andere Problem mit dem Verlieren hat.
Phil Foden: "Gott" und Guardiolas neues Monster
Fodens Spiel gegen Liverpool am Sonntag war ziemlich komplett. Er verteidigte mehr als Messi oder Roberto Firmino das in ihren Rollen als falsche Neun tun. Er tauchte links und rechts auf, kam selbst in Abschlusssituationen oder bereitete solche vor, traf selbst höchst sehenswert.
Es gehört für offensive Mittelfeldspieler unter Guardiola zum guten Ton, ständig in einem in Abwesenheit von Sergio Agüero stürmerlosen System immer mal wieder in die vorderste Spitze zu rotieren.
Guardiola verlangt gerade Wechsel in der Besetzung der Spitze von Gündogan, Riyad Mahrez, Bernardo Silva, Gabriel Jesus, Sterling, Kevin De Bruyne oder Ferran Torres. Aber niemand war darin bislang so vielseitig und so effektiv wie Foden gegen Liverpool. Der ist in Manchester mittlerweile "Gott", "Manchester City" und Guardiolas neues Monster in einer Person.
Phil Foden: Spielerstatistiken bei ManCity 2020/21
Wettbewerb | Spiele | Tore | Torvorlagen |
Premier League | 17 | 4 | 2 |
Champions League | 6 | 1 | 1 |
League Cup | 3 | 2 | 2 |
FA Cup | 2 | 2 | - |