Der Spruch hat auch in dieser Spielzeit Konjunktur, allerdings mit etwas anderem Vorzeichen. Nun steht Manchester United (bei gegnerischen Fans) im Verdacht, die Tabellenführung allein den Künsten des Niederländers zu verdanken. Van Persie ist mit seinen 17 Liga-Toren zweifelsohne der überragende Akteur auf der Insel; zudem ist er seit dem Abschied von Cristiano Ronaldo vor dreieinhalb Jahren der erste "Red Devil" auf absolutem Weltklasseniveau.
Da Wayne Rooney wegen mitunter unseriöser Lebensführung nur phasenweise sein enormes Potenzial abruft, musste Alex Ferguson in den vergangenen Jahren in erster Linie auf die Qualität des Kollektivs vertrauen. United wurde 2011 Meister, in den anderen beiden Spielzeiten der Post-Ronaldo-Ära (2009/10, Zweiter hinter Chelsea; 2011/12 Zweiter hinter Man City) fehlte aber möglicherweise eine Spur individuelle Brillanz . Und das gilt seit 2009 auch auf europäischer Ebene.
United kein "one-man-team"
"Ich glaube nicht, dass wir ein 'one-man team' geworden sind", sagte Alex Ferguson vor sieben Tagen leicht irritiert. "In unserer Geschichte gab es eine Zeit, in der wir von einem Spieler getragen wurden, Eric Cantona hielt uns mit seinen Toren im Spiel, wenn wir mal keinen guten Tag hatten. Aber heute sieht die Sache anders aus." Ferguson verwies auf die zwölf Tore von Javier Hernández und neun Treffer von Wayne Rooney, zudem erinnerte er an die sieben Tore, die das Verteidiger-Duo Jonny Evans und Patrice Evra zusammen erzielt hat.
Ein Blick auf die Torjägerliste des angriffsstärksten Teams der Liga (57 Tore) bringt in der Tat Erstaunliches zu Tage. Ferguson hat Recht: United hat bisher 16 verschiedene Torschützen, mehr als Chelsea (14), Man City (13) oder zum Beispiel der FC Arsenal (9). Keine Mannschaft trifft so variabel. Das liegt vielleicht auch an van Persie, der mit sechs Vorlagen glänzte und mit seiner überaus intelligenten Spielweise viel Platz für die Kollegen schafft. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich hier zwei Faktoren gegenseitig verstärken: van Persies Ausnahmeklasse macht Uniteds Kollektiv noch besser und umgekehrt.
"Ohne van Persies Tore und Vorlagen wäre United nur Neunter in der Tabelle", sagte kürzlich ein Moderator der BBC. Das mag rein mathematisch stimmen, macht aber keinen Sinn, weil United ohne van Persie ja nicht sämtliche Spiele 90 Minuten lang mit zehn Mann bestritten hätte. Diese vermeintliche "Statistik" sagt bei genauerer Betrachtung also eher das Gegenteil von dem aus, was der Journalist zum Ausdruck bringen wollte. United ist keineswegs eine mittelmäßige Mannschaft, die nur dank "RVP" die Tabelle anführt, sondern so stark, dass sie auch mit einem Mann weniger in allen Spielen immer noch Neunter im Klassement wären.
Beste Saison seit 1993/94?
Im internationalen Vergleich steht man auch wieder besser da. United liegt mit einem Punktedurchschnitt von 2,43 auf Platz drei in der Liste der Tabellenführer in den Top-Ligen, zwar deutlich hinter der Übermannschaft Barcelona (2,75), aber nur knapp hinter Bayern (2,5), und vor Juventus (2,28). Real Madrid (2,35) und Borussia Dortmund (1,83) sind zwar trotz des schwächeren Schnitt im direkten Duell nicht unbedingt schlechter einzuschätzen, aber Uniteds Konstanz im heimischen Wettbewerb ist trotzdem beachtlich. Auf eine so große Punkteausbeute kam Sir Alex seit 1993/94 (92 Zähler am Saisonende) und 1999/2000 (91 Punkte) nicht mehr. Dieses Jahr könnte also sogar Uniteds beste Saison überhaupt in der Premier League werden. Falls man das Tempo hält.
Interessant ist allerdings, dass die Red Devils auf der Insel derzeit nicht so stark eingeschätzt werden, wie es die nackten Zahlen eigentlich verlangen würden. Das liegt zum einen an der Flut von Gegentoren (30 in 23 Spielen) und den oft erst nach der Pause überzeugenden Partien, ist allerdings auch der (gezwungen) wechselhaften Personalpolitik geschuldet. Das traditionell starke Flügelspiel von United kommt in dieser Spielzeit weniger zum Tragen, da Nani (7 Spiele, ein Tor, eine Vorlage) und Antonio Valencia (17 Spiele, null Tore, vier Vorlagen) mit Formschwäche beziehungsweise Verletzungen kämpfen. Die am Freitag bekannt gewordene Verpflichtung von Talent Wilfried Zaha (18 Millionen Euro, Crystal Palace) für den kommenden Sommer, zeigt, dass Ferguson auf dieser Position Handlungsbedarf erkannt hat.
Reicht der Stil-Mix für die CL?
Direkt hinter van Persie fehlte Shinji Kagawa und Rooney wegen Verletzungen die Konstanz, um eine echte Partnerschaft mit dem Mittelstürmer einzugehen. Und in der taktischen Grundausrichtung variiert der Schotte darüberhinaus je nach Gegner stark zwischen jungen Spielern mit Pressing (Cleverley, Welbeck, Kagawa) und tiefererem Umschaltspiel mit langen Bällen (Giggs, Scholes). Das Rotationsprinzip auf allen Ebenen macht United zwar unheimlich unberechenbar, behindert aber auch den Spielfluss. Dieses United müht, arbeitet und kämpft sich zu seinen Akkordsiegen. Man sieht dem Team die Fähigkeit an, zu improvisieren, Antworten zu finden. Aber nicht immer eine spielerische Identität.
Ob es mit diesem Stil-Mix für den großen Wurf in Europa reicht? In der Liga aber hat sich United nach dem schmerzlichen Verlust der Meisterschaft an City in letzter Minute entscheidend zurück gemeldet. Natürlich auch und besonders dank des phänomenalen Qualitätszuwachs durch van Persie. "Wir waren auch nahe dran, ihn zu verpflichten", gab Roberto Mancini vor kurzem sehr wehmütig zu, "er macht im Moment den Unterschied zwischen unseren Mannschaften aus."
Manchester United im Steckbrief
Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 18 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.