Freitag, 26. Dezember 2003, in der 500.000-Einwohner-Stadt Bradford in der englischen Grafschaft West Yorkshire. Im Horsfall Community Stadium steigt an diesem Nachmittag die Partie zwischen Bradford Park Avenue und Harrogate Town.
Regen, matschiger Rasen, fünfte Liga, Kick and Rush - nichts für Feinschmecker. Trotzdem haben sich an diesem Feiertag rund 500 Fans im 3.500 Zuschauer fassenden Stadion an der Halifax Road eingefunden. Mittendrin im Getümmel: Lutz Pfannenstiel.
Der deutsche Torhüter, damals 30 Jahre alt, ist DER Weltenbummler unter den Profifußballern. England, Malaysia, Südafrika, Singapur, Finnland, Neuseeland, Norwegen, Kanada, Albanien, Armenien, Brasilien und Namibia - die Abenteuerlust des Mannes aus dem bayrischen Zwiesel kennt keine Grenzen.
Im Dezember 2003 steht Pfannenstiel bereits zum zweiten Mal in seiner Laufbahn bei Bradford Park Avenue unter Vertrag. Diesmal überbrückt der Keeper die spielfreie Zeit in Neuseeland, um anschließend zu seinem "Lieblingsverein" Dunedin Technical zurückzukehren.
Pfannenstiel: "Als würden Dutzende Blitze einschlagen"
"Im Minutentakt flogen die Bälle auf mich zu, ich bekam zwei Ellenbogen ins Gesicht. Es war eines jener Spiele, die ich liebte", schreibt Pfannenstiel in seinem Buch "Unhaltbar" über die Partie am Boxing Day gegen Harrogate Town.
Simon Collins und Robbie Painter bringen die Gastgeber früh mit 2:0 in Führung, es läuft die 29. Spielminute. Nach einem Pass aus dem Mittelfeld läuft Clayton Donaldson alleine auf den deutschen Torhüter zu.
"Der Ball rollte genau zwischen uns, zehn Meter trennten uns beide von ihm. Ich grätschte an der Strafraumgrenze in den Ball, doch da war Donaldson schon da. Er schoss den Ball aus vollem Lauf gegen mich, dann traf er mit dem Knie im Fallen meinen Brustkorb. Es war, als würden Dutzende Blitze auf einmal einschlagen. Mir blieb die Luft weg", erinnert sich Pfannenstiel.
Der frühere U17-Nationalspieler des DFB springt auf und will sich beim Schiedsrichter beschweren. "Dann plötzlich Schwärze. Ich fiel um. Sackte zusammen, ohne jede Reaktion", so Pfannenstiel. Das Spiel läuft weiter, Paul Sykes verwandelt den Abpraller zum Anschlusstreffer.
Physiotherapeut Ray Killick wird zum Lebensretter
Bradfords Physiotherapeut Ray Killick begreift den Ernst der Lage als Erster. Er sprintet auf den Platz, stolpert und hält sich nur mit Mühe auf den Beinen. Unter den Zuschauern im Stadion - darunter Pfannenstiels im siebten Monat schwangere Freundin - macht sich eine gespenstische Stille breit.
"Ray fühlte meinen Puls und fing an zu fluchen. 'Nichts.' Mein Atem hatte ausgesetzt. 'He is fucking dead', schrie er panisch. 'He is fucking dead'", schreibt Pfannenstiel über den dramatischen Moment.
Killick gibt damals für den englischen Verband Erste-Hilfe-Kurse, kennt sich in der Theorie also mit der Materie aus. Im Ernstfall musste der Physio sein erlerntes Wissen bis dato allerdings noch nicht anwenden.
"Alles, woran ich gedacht habe, war, dass ich ihn am Leben halten muss, bis der Krankenwagen eintrifft", wird Killick später sagen. Er beginnt sofort mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung.
Zweimal setzt Pfannenstiels Atmung wieder ein und aus. Bradford-Coach Trevor Storton weint, sein Co-Trainer Ian Thompson kauert hinter der Ersatzbank, den Spielern auf dem Platz steht der Schock ins Gesicht geschrieben. Beim dritten Wiederbelebungsversuch hat Killick endlich Erfolg. "Ich habe ihn wieder", schreit der Physiotherapeut.
Pfannenstiel: "Ich war gerade tot. Dreimal!"
Pfannenstiel wird ins Royal Hospital of Bradford gebracht. Er kommt nur langsam wieder zu sich und reagiert wie eine Furie, als er bemerkt, dass er zu seiner eigenen Sicherheit auf einer Trage fixiert ist.
"Was zum Teufel ist hier los", brüllt Pfannenstiel eine Krankenschwester an: "Warum habt ihr mich ausgewechselt. Macht mich sofort los, ich muss zurück aufs Feld." Erst als ihm die ganze Geschichte erzählt wird, beruhigt er sich. Vom Zusammenprall mit Donaldson, dem Schlag gegen den Solarplexus, wodurch mehrere Organe kurzzeitig ihre Funktion verweigerten und dem anschließenden Spielabbruch. Glücklicherweise ergeben eingehende Untersuchungen bald, dass Pfannenstiel den Unfall erstaunlich unbeschadet überstanden hat.
Der Torhüter erschrickt, als er bemerkt, dass er nicht wie sonst üblich direkt nach dem Spiel seine Eltern angerufen hat - und greift zum Hörer. "Ich war gerade tot. Dreimal. Aber jetzt lebe ich wieder", sind die ersten Worte, die er seiner erschrockenen Mutter entgegenschleudert.
Zeitung über Pfannenstiel: "Footballer saved by kiss of life"
"Footballer saved by kiss of life", titelt am Tag darauf die in Bradford beheimatete Tageszeitung The Telegraph & Argus und ergänzt: "Physio Ray Killick rettete Lutz Pfannenstiel das Leben, indem er ihm auf dem Spielfeld eine Mund-zu-Mund-Beatmung verabreichte."
Trainer Stornton spricht vom schrecklichsten Vorfall, den er im Fußball je erlebt hat: "Seine Augen rollten nach hinten und er hörte einfach auf zu atmen. Es war sehr beängstigend. Ray hat einen tollen Job gemacht."
Völlig verrückt: Nur fünf Tage nach dem Unfall steigt Pfannenstiel gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte wieder ins Training ein.
"Ich redete mir ein, dass ich nicht lange warten durfte mit meinem Comeback. Skispringer müssen nach schweren Unfällen so schnell wie möglich wieder auf die Schanze, sonst bekommen sie Angst vor ihrem Sport. Mir ging es genauso. Ich hatte Angst davor, Angst zu bekommen", so Pfannenstiel.
Pfannenstiel: Ähnliche Mechanismen wie bei Trautmann
Zwei weitere Tage später steht der Torhüter bei einem Pokal-Spiel wieder zwischen den Pfosten.
Er wolle sich keinesfalls auf eine Stufe mit dem in England zur Legende gewordenen deutschen Torhüter Bert Trautmann stellen, betont Pfannenstiel stets. Dieser hatte 1956 im FA-Cup-Finale gegen Birmingham City den 3:1-Sieg von Manchester City festgehalten - und spielte dabei trotz eines während der Partie erlittenen Genickbruchs durch. Auch deshalb wurde Trautmann später von den Fans der Skyblues zum besten Spieler der Vereinsgeschichte gewählt.
Aber, so erklärt es Pfannenstiel, die Mechanismen bei seinem Comeback für Bradford seien denen bei Trautmann nicht unähnlich gewesen, was die Reaktion der Anhänger betrifft.
"Als ich das Feld betrat, erhoben sich die Fans - auch die gegnerischen. Der Stadionsprecher rief: 'Hier ist der Mann, der für Bradford dreimal sein Leben ließ'", erinnert sich der Torhüter.
Mit exakt diesem Satz wird Pfannenstiel, der seit 2020 Sportdirektor beim US-Klub St. Louis City ist, auch noch Jahre später vom Stadionsprecher begrüßt, wenn er als Zuschauer bei einem Spiel von Bradford Park Avenue zu Gast ist.