Dieser Text erschien zum ersten Mal am 25. Dezember 2019
Fußball hatte ihm der Arzt verschrieben. Für die Kraft und die Koordination. Denn Garrincha kam mit einer Behinderung auf die Welt. Seine Beine waren völlig verkrüppelt. Um die Chance auf ein halbwegs normales Leben zu wahren, entschieden sich die Eltern für mehrere riskante Operationen. So konnte er überhaupt laufen. Zwar hatte er ein X- und ein O-Bein, das eine war sechs Zentimeter kürzer als das andere. Aber er konnte laufen.
Am Fußball fand er schnell Gefallen. Garrinchas Arzt verdankt Brasilien den vielleicht besten Fußballer seiner Geschichte. Garrincha wurde 1958 und 1962 Weltmeister mit der Selecao. Aufgrund seiner Tore stand Pele stets im Rampenlicht. Doch der Künstler auf der rechten Außenbahn war es, der das Publikum in Staunen versetzte. "Wenn er auf dem Platz stand, schien er den Himmel zu berühren", sagte seine letzte Frau Elza Soares einst über ihn.
Garrincha: Von Klubs ignoriert - Durchbruch bei Botafogo
Sein Talent blieb beinahe unentdeckt. Keiner der großen Klubs wollte den verkrüppelten Jungen aus Pau Grande auch nur ins Training einladen. Auch Botafogo-Trainer Gentili Cardoso wollte nichts von dem 20 Jahre alten, 1,69 Meter "großen" Schmächtling wissen. Ein Achselzucken später führte eben jener Cardosos gesamte Mannschaft vor und stellte deren Profitauglichkeit infrage.
Vor allem Nilon Santos, ein Weltklasseverteidiger zu dieser Zeit, sah gegen die Tricks und Dribblings von Garrincha kein Land. Der verkrüppelte Unbekannte machte ihn lächerlich. Botafogo hatte also einen neuen Spieler. Und Garrincha und Santos wurden enge Freunde.
Von ihm hat Garrincha auch den Beinamen "Charlie Chaplin des Fußballs" - wegen seiner verspielten Art. Eigentlich hieß er aber Manoel Francisco dos Santos. Garrincha, so nannte ihn zuerst seine Schwester. Der gleichnamige Urwaldvogel hatte wohl einen ähnlichen Gang wie ihr Bruder.
Bald kannte ihn ganz Brasilien als Garrincha. Sein Stern ging wie der von Pele bei der WM 1958 auf. Er gilt als bester Rechtsaußen aller Zeiten.
Garrinchas Karriere-Stationen in Zahlen
Zeitraum | Team | Spiele | Tore |
1953 bis 1965 | Botafogo | 581 | 232 |
1966 | Corinthians | 10 | 2 |
*1968 | Atletico Junior | 1 | 0 |
1968 bis 1969 | CR Flamengo | 15 | 4 |
1972 | Olaria AC | 10 | 1 |
*ein Jahr Pause wegen einer Meniskus-OP.
Pele über Garrincha: "Er konnte Dinge, die niemand konnte"
1961 taten sich Inter, Milan und Juventus zusammen, um einen einzigartigen Deal abzuschließen: Die drei italienischen Traditionsklubs wollten Garrincha für drei Jahre verpflichten, dabei sollte er für jeden Verein ein Jahr lang spielen. Doch Garrincha blieb in Botafogo und gewann ein Jahr später seinen zweiten WM-Titel. Nachdem sich Pele verletzt hatte, avancierte Garrincha zum alles überstrahlenden Star und wurde als Spieler des Turniers ausgezeichnet. "Er konnte Dinge mit dem Ball, die niemand sonst je konnte. Ohne ihn hätte ich niemals dreimal Weltmeister werden können", sagte Pele später.
Dabei machte er oft dasselbe. Aufzuhalten war er trotzdem nicht. Sein Signature-Trick war ähnlich wie der klassische "Robben": Ein Haken und er zog vorbei, nur nicht nach innen, sondern außen vorbei. Oft nahm er das Tempo danach noch mal raus, um seinen Gegenspieler abermals zu vernaschen. Seine Spielweise war aufreizend, aber spektakulär. Immer wieder brachte er neue Tricks oder entwickelte andere weiter. Doch alles wirkte stets intuitiv, als ob er sich nicht viele Gedanken machte.
Garrincha plagt eine schwere Alkoholsucht
Die machte er sich abseits des Platzes tragischerweise auch nicht. Sein Privatleben war ein einziger Skandal. Das Haus, in dem Garrincha früher lebte, ist heute ein Bar. Das passt gut, war der Alkohol doch stets sein bester Freund. Die Flasche wurde ihm mehr oder weniger in die Wiege gelegt.
Schon sein Vater war alkoholsüchtig, Garrincha fing mit dem Trinken offenbar schon im Alter von zehn Jahren an, um das Beißen in seinen Beinen zu ertränken. "Ich hatte schreckliche Schmerzen. Um mich besser zu fühlen, habe ich oft mein Gesicht auf kalten Beton gelegt", sagte Garrincha kurz vor seinem Tod in einem Interview mit ESPN.
Garrincha hatte 13 bis 15 Kinder von fünf verschiedenen Frauen
Einerseits war Garrincha stets ein schüchterner, höflicher Mann. In Brasilien erzählt man sich, er habe sogar die Hunde gegrüßt, die ihm auf der Straße entgegenliefen. Er sprach ohnehin gern mit Tieren und fühlte sich in der Natur wohl.
Andererseits ließ er es ordentlich krachen. Nicht nur den Alkohol genoss er exzessiv. Auch die Frauenwelt zog ihn wie ein Magnet an. Er war zweimal verheiratet. 1965 trennte er sich von seiner ersten Frau (und acht Töchtern). Die Scheidung war im hochkatholischen Brasilien verrufen, Garrincha brachte einige Landsleute gegen sich auf. Noch mehr, als er danach mit der Samba-Sängerin Elza Soares zusammenlebte. Sie galt als Skandalnudel, was allerdings zum Lebensstil von Garrincha passte.
Mit dem Erfolg floss mehr Alkohol, Frauen marschierten ein und aus. Garrincha hatte zahlreiche Affären. Verschiedene Quellen sprechen von 13 bis 15 Kindern von fünf verschiedenen Frauen. Sein Lebensstil mag in der noch immer oft proletarischen Fußball-Welt glorifiziert werden. Wie schlimm es aber wirklich war, offenbarte das Jahr 1969.
"Garrincha war ein armseliger Clown"
Der einstige Zauberer war nurmehr ein Schatten seiner selbst. Jahrelang hatte er mit Schmerzen im Knie gespielt, bis es einfach nicht mehr ging. Gegen den Willen von Botafogo unterzog sich Garrincha einer längst überfälligen OP. Ein irreparabler Meniskusschaden wurde festgestellt. Sein ohnehin nicht für Leistungssport gemachter Körper war überstrapaziert. Botafogo hatte seinen Superstar verheizt, Garrincha bekam keine Pausen.
Schon bei der WM 1966 kam das zum Vorschein. "Der Garrincha, den wir damals erlebten, war kein Star mehr, sondern ein armseliger Clown, der von der Bühne gefegt wurde in die Schmiere", beschrieb der deutsche Autor Hans Blickensdörfer den einstigen Weltstar später.
1969 war Garrinchas Karriere im Grunde beendet. Er widmete sich nun voll und ganz dem Alkohol. Dadurch war er in mehrere Autounfälle verwickelt. Einer war besonders folgenschwer. Sonntag war Familientag. Garrincha fuhr wie jede Woche nach Pau Grande, um seine Töchter zu besuchen. Meist wurde er von seiner Frau Elza oder von Freunden begleitet. Diesmal saßen seine Schwiegermutter Rosaria und seine Tochter Sara mit im Wagen.
Garrincha fährt seine Stiefmutter in den Tod
Auf dem Rückweg war er bereits ordentlich angetrunken. Alles wie immer. Er fuhr auf der Hauptstraße in Richtung Rio. Mehrere hundert Meter vor ihm zog ein LKW, vollbeladen mit Kartoffeln, von einer Mautstation auf die Straße. Als der Lastwagen vor ihm aus der Dunkelheit auftauchte, war es bereits zu spät.
Garrincha war zu schnell dran, wollte noch ausweichen, rammte jedoch die Rückseite des LKWs. Sein Ford Galaxie überschlug sich dreimal. Die Mitarbeiter der Mautstation hörten den Unfall und eilten zur Hilfe. Sie zerrten die blutüberströmten Körper von Garrincha und seiner Tochter Sara aus dem Wagen. Seine Stiefmutter Rosaria war beim Aufprall durch die Windschutzscheibe geflogen, sie verstarb noch am Unfallort.
Garrincha war ein soziales Wrack. Schon vor der WM 1958 wurde bei einem Charaktertest festgestellt, dass er das geistige Niveau eines Acht- bis Zwölfjährigen besitzen solle. Dementsprechend sorglos ging er mit seinem Geld um. Nach seinem Karriereende war nicht mehr viel davon übrig. Wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen landete er sogar zweimal im Gefängnis. Sein Lebensabend war von Alkohol und Armut geprägt.
Garrincha stirbt im Alter von 49 Jahren
Alt war Garrincha noch nicht. Er verstarb an einer Leberzirrhose, bevor er seinen 50. Geburtstag feiern konnte.
Trotz aller Verfehlungen und Missetaten bleibt er den meisten Brasilianern in erster Linie als Fußball-Virtuoswe in Erinnerung. "HIER RUHT IN FRIEDEN DER, DER DIE FREUDE DES VOLKES WAR" - prangt in großen Lettern auf seinem Grabstein in Rio. Sein Spiel entschädigte das von politischen Krisen zerfressene Land - zumindest ein wenig.
Biograf Ruy Castro schreibt: "Die Menschen liebten ihn so sehr, weil er eigentlich ein Verlierertyp war."