Einmal hielt er ihn schon in der Hand, den Goldenen Ball. Im Januar 2014 war das, um genau zu sein, als sein großes Vorbild Cristiano Ronaldo zum Ärger eines gewissen Franck Ribery triumphiert hatte.
"Allein hätte ich das niemals geschafft", sagte Ronaldo damals mit Tränen in den Augen und gestattete jedem seiner Teamkollegen von Real Madrid, sich die Trophäe des weltbesten Fußballers für ein Foto zu leihen. Und so stand Jese Rodriguez da plötzlich, lachend und mit dem linken Finger auf das Objekt der Begierde zeigend.
"In fünf Jahren", kündigte der junge Außenstürmer aus der Talentschmiede der Königlichen ein paar Wochen später vollmundig in einem Interview an, "will ich den Goldenen Ball selbst gewinnen".
Doch alles kam anders. Er zog sich kurz darauf bei einem Zweikampf mit Sead Kolasinac im Champions-League-Achtelfinale gegen Schalke 04 einen Kreuzbandriss zu. Jene Verletzung nahm ihm seine fußballerische Leichtigkeit, die ihm unter dem damaligen Real-Coach Carlo Ancelotti zwischenzeitlich einen Stammplatz eingebracht hatte - und bildete den Anfang eines krassen Absturzes.
"Traurig": Jese seit PSG-Wechsel 2016 auf Odyssee
Heute, fünf Jahre später, wäre Jese froh, wenn er überhaupt wieder Spaß am Fußball hätte. Mehr noch: Er kämpft mit 26 um seine Karriere.
"Es macht mich traurig, was mit Jese passiert ist. Er und ich kennen uns seit zwölf Jahren, er ist wie ein Bruder für mich", sagt Omar Mascarell, ausgerechnet Profi bei Jeses "Albtraumverein" Schalke, im Gespräch mit SPOX und Goal über den Kicker, mit dem er zahlreiche Jugendmannschaften der Madrilenen durchlief und zeitweise sogar zusammen in einer WG in der spanischen Hauptstadt wohnte.
Der Kontakt sei heute "nach wie vor vorhanden", verrät Mascarell, Zeit zu privaten Verabredungen biete sich aber kaum. Kein Wunder: Jeses Leben gleicht seit nunmehr drei Jahren einer Odyssee.
Diese begann mit seinem Wechsel zu Paris Saint-Germain im Sommer 2016, den er wegen fehlender Spielpraxis bei Real forciert hatte. "Ich sehe mich nicht als Spieler für 20 Minuten", erklärte der Spanier bei seiner Vorstellung in der französischen Hauptstadt: "Ich will immer spielen." Das tat er aber auch an der Seine nicht. Der damalige PSG-Coach Unai Emery fand nach einem halben Jahr keine Verwendung für den 25 Millionen Euro schweren Neuzugang.
Scheitert auch die vierte Leihe? Probleme bei Sporting
Heute steht er offiziell noch immer bei den Franzosen unter Vertrag, doch auch Emerys Nachfolger Thomas Tuchel braucht ihn nicht. Nach drei unbefriedigenden Leihen bei UD Las Palmas, Stoke City und Betis Sevilla trägt Jese mittlerweile das Trikot von Sporting Lissabon. Gut unterrichteten Quellen aus Portugal zufolge gibt es bei dem Tabellensechsten der Primeira Liga aber schon Gedankenspiele, Jese im Winter zurück nach Paris zu schicken.
Trainer Jorge Silas komme mit der "extravaganten Art" des zweimaligen Champions-League-Siegers nicht zurecht, schreibt etwa A Bola. Das Fass zum Überlaufen habe sein Verhalten bei seiner Auswechslung im Duell mit CD Aves gebracht, als er Silas den obligatorischen Spieler-Trainer-Handschlag verweigerte.
Bei seinen vorherigen Leihvereinen hatte sich Jese mit ähnlichen Disziplinlosigkeiten ins Abseits manövriert. Mal verließ er das Stadion vorzeitig, wenn er nicht im Kader stand, mal kam er zu spät zum Training, mal nahm er sich Sonderurlaub. Der Eindruck, er halte sich für etwas Besseres, besteht schon seit seinen frühen Jahren bei Real.
"Der Talentierteste von allen": Ruhm stieg Jese zu Kopf
"Jese war der Talentierteste von allen", erinnert sich sein Kumpel Mascarell: "Jeder wusste: Der Junge hat alles, um irgendwann in der ersten Mannschaft zu spielen." Auch er selbst. Die von der spanischen Presse munter verbreiteten Vergleiche mit Größen wie Raul oder Cristiano Ronaldo halfen ihm nicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Der frühe Ruhm stieg ihm zu Kopf. Nach seinem Ligadebüt unter Jose Mourinho im März 2012 schmiss er angeblich eine riesige Privatparty, die sich bis zu "the Special One" herumsprach und ihn dazu veranlasste, ihn nicht mehr zu berücksichtigen.
Jese drohte Monate später über seinen Berater Gines Carvajal mit einem Wechsel, woraufhin sich sogar Reals Präsident Florentino Perez einschaltete und ihm zusicherte, schon bald bei den Profis Fuß zu fassen. Das gelang ihm nach Mourinhos Rücktritt im Mai 2013, nachdem er für die zweite Mannschaft von Real 21 Tore in der zweiten Liga erzielt und damit den Uralt-Rekord von Klub-Legende Emilio Butragueno geknackt hatte.
"Jese, der neue CR7" oder "Jese, der Galactico zum Nulltarif" war häufiger zu lesen, als er unter Mourinhos Nachfolger Ancelotti vielversprechende Leistungen zeigte.
Partys, Frauengeschichten, Rap-Karriere
Dann aber kam die lange Verletzungspause. Und Jese war weg vom Fenster. Weil er nicht Fußball spielen konnte, verlor er den Fußball aus den Augen. Wie auf Knopfdruck tauchte er nur noch in der spanischen Klatschpresse auf. Von wilden Partynächten war fortan zu lesen, von Frauengeschichten - und von Musik. Er versuchte sich unter dem Namen "Big Flow" und später unter dem Namen "Jey M" als Rapper, hing mit zwielichtigen Leuten aus seiner Heimat auf Gran Canaria herum.
"Jese ist ein guter Junge, der das Herz am rechten Fleck hat", sagt Mascarell. "Aber: Er hat dann irgendwann viele falsche Freunde kennengelernt - und eine schwierige Frau." Die Rede ist von Aurah Ruiz. Jese lernte sie über die spanische Dating-TV-Show "Mujeres, hombres y Viceversa" kennen und kam mit ihr vor seinem Wechsel zu PSG zusammen.
In Paris, das berichtete der Profi später in einem Interview selbst, lebten beide monatelang in einem Hotelzimmer zusammen, das täglich um eine Shoppingtüte reicher wurde. Irgendwann sah er sich genötigt, seine Kreditkarte sperren zu lassen, weil seine Freundin einen großen Teil seines Gehaltes für Kleidung und Schmuck verprasst hatte.
Jese-Kumpel Mascarell: "Kann ihm die Bundesliga empfehlen"
Heute haben beide kein Verhältnis mehr zueinander. Sie hassen sich sogar, was aus einigen Interviews hervorgeht. Sie verbindet aber noch ein gemeinsamer Sohn namens Nyan. Aurah möchte das alleinige Sorgerecht für sich beanspruchen, weil sie Jese vorwirft, sich zu wenig um Nyan zu kümmern. Der mittlerweile Zweijährige kam mit einer seltenen Behinderung zur Welt und lag nach seiner Geburt mehrere Monate im Krankenhaus.
Auch deshalb schaffe es Jese, insgesamt dreifacher Vater, in den vergangenen Jahren nicht, alles seinem Beruf unterzuordnen. "Mittlerweile", sagt jedenfalls Mascarell, "tut er das aber wieder." Bei seinem neuen Abenteuer in Lissabon gibt es dem Vernehmen nach dennoch Probleme. Womöglich kehrt er im Januar nach Paris zurück, wo sein Arbeitspapier im kommenden Sommer ausläuft. Wie geht es weiter? "Ich kann ihm die Bundesliga empfehlen", meint Mascarell und fügt hoffnungsvoll an: "Er ist mit seinen 26 immer noch jung. Die Qualität verliert man nicht."
Jese Rodriguez im Steckbrief
geboren | 26. Februar 1993 in Las Palmas de Gran Canaria, Spanien |
Größe | 1,77 m |
Gewicht | 78 kg |
Position | Linksaußen, Rechtsaußen, Sturm |
starker Fuß | rechts |
Stationen | Virgin del Par Jugend, AD Huracan Jugend, Real Madrid Jugend, Real Madrid Castilla, Real Madrid, Paris Saint-Germain, UD Las Palmas, Stoke City, Betis Sevilla, Sporting Lissabon |
Profispiele/-tore | 202/48 |