Das Spiel im altehrwürdigen Estadio Monumental lief noch, als einige Fans auf den Tribünen ihrem Ärger freien Lauf ließen und begannen, das Stadion zu zerlegen. Ihr Klub, der argentinische Rekordmeister River Plate, hatte soeben gegen den Zweitligisten Belgrano Cordoba nur 1:1 gespielt und stand somit erstmals in seiner ruhmreichen Geschichte als Absteiger in die zweite Liga fest.
Zunächst hatte noch alles gut für die Millonarios ausgesehen. Bereits in der fünften Minute gingen sie durch Mariano Pavone mit 1:0 in Führung und die Fans im Stadion waren zuversichtlich, dass man die 0:2 Niederlage aus dem Hinspiel noch ausbügeln könnte. In der 61. Minute aber traf Guillermo Farre nach einem kapitalen Abwehrschnitzer von River zum 1:1 und sorgte damit für einen kollektiven Schockzustand im Stadion.Als dann Torjäger Pavone in der 69. Minute auch noch einen Elfmeter verschoss, wurde selbst dem letzten Tribünengast klar, dass das Unvorstellbare Realität werden würde. Wie es überhaupt soweit kommen konnte, dass sich ein Traditionsklub wie River Plate in der Endabrechnung der Tabelle auf einem Abstiegsrelegationsplatz wieder fand, hat mehrere Ursachen.
Abstiegsrelegation trotz 9. Platz
Eine davon ist das für alle Mitteleuropäer - mit Ausnahme von Belgien - unverständliche Abstiegssystem der argentinischen Liga, denn obwohl man in der Abschlusstabelle der Clausura den neunten Platz belegte, musste River in die Promocion genannte Abstiegsrelegation. Um das zu verstehen, bedarf es einer kleinen Erklärung der Abstiegsarithmetik im Tabellenkeller.
Neben zwei direkten Absteigern gibt es dort auch zwei Releganten. Im Abstiegskampf entscheidet jedoch nicht die Tabellenplatzierung in der regulären Tabelle, sondern eine gesonderte Abstiegstabelle, in der ein Koeffizient der letzten drei Spielzeiten gebildet wird. Dazu werden die in der Primera Division erzielten Punkte jedes einzelnen Klubs aufsummiert und durch die absolvierten Spiele geteilt.
Der errechnete Durchschnitt entscheidet dann über die Platzierung in der Abstiegstabelle. Dieses Prozedere führte eben dazu, dass sich Rekordmeister River Plate auf dem viertletzten Platz der Tabelle wiederfand und damit in die Relegation gegen den Vierten der Primera B Nacional musste.
Verschuldung und Niedergang
Der Niedergang, den River Plate in den letzten Jahren erlebte, ist jedoch nicht nur diesem seit 1983 zugunsten von River eingeführten System geschuldet.
Der Klub durchläuft derzeit die schlimmste Krise in der 110-jährigen Vereinsgeschichte. Der neben Boca Juniors und Independiente einzige ewige Erstligist kämpft seit Jahren ums finanzielle Überleben und erhält nun die Quittung für die Fehler der Vergangenheit.
Finanzielle Schwierigkeiten gehören zu den Klubs der argentinischen Liga wie die zehn aufs Trikot von Diego Maradona. Im Jahr 2009 musste der Start der Primera Division wegen der hohen Schulden der Vereine bei Spielern, Fiskus und Verband sogar um eine Woche verschoben werden.
Wie die argentinische Tageszeitung "Tiempo Argentino" im Dezember 2010 berichtete, soll bei River nur noch der Schuldenberg in Höhe von 37 Millionen Euro dem Spitznamen Millonarios gerecht werden. Insgesamt 32,5 Millionen sollen davon bis zum Jahresende abgebaut werden. Das Defizit in Höhe von 14 Millionen Euro bedeutet argentinisches Rekordniveau.
Ein kleiner Trost: In der zweiten Liga kann River Plate seine TV-Rechte selbst vermarkten und damit mehr erlösen als in der Primera Division.
Rigider Sparkurs unter Passarella
Während der Präsidentschaft von Jose Maria Aguilar (2001 bis 2009) erreichte das undurchsichtige Finanzgebahren bei River seinen Höhepunkt. Die hervorragende Jugendarbeit, die Stars wie Javier Saviola, Ariel Ortega oder Javier Mascherano hervorgebracht hatte, wurde vernachlässigt und vielversprechende Talente wurden viel zu früh für viel zu wenig Geld verkauft.
Beim Transfer von Fernando Belluschi von River zu Olympiakos Piräus verschwanden sogar rund 2,8 Millionen Euro, wofür sich Aguilar und ein weiterer Ex-Funktionär, Mario Israel, vor Gericht verantworten müssen.
Seit 2009 steht nun mit dem Kapitän der argentinischen Weltmeistermannschaft von 1978, Daniel Passarella, eine Klub-Ikone an der Spitze, der ein rigides Sparprogramm durchgesetzt hat. In einem Interview mit "Clarin" bestätigte El Kaiser, dass die Bilanzen der vergangenen Jahre frisiert waren und dass man mit einem monatlichen Defizit zwischen 120.000 und 140.000 Euro kalkuliere.
Dennoch sei er nicht besorgt: "Real Madrid ist mit 500 Millionen Euro verschuldet, hat aber eine beeindruckende Liste von Spielern in der Aktiva der Bilanz stehen. Verkaufe sie und fertig", erklärte er und fügte an: "River hat ebenfalls eine sehr wichtige Aktiva, mit Spielern, die sehr viel wert sind: Rogelio Funes Mori, Erik Lamela, Manuel Lanzini, Diego Buonanotte."
Letzterer wurde im Januar bereits für 4,5 Millionen Euro an Malaga verkauft, aber dann für ein weiteres halbes Jahr zurückgeliehen.
Finanzielle Konsolidierung vs. sportliche Talfahrt
Neben dem Verkauf junger Spieler verzichtete Passarella auch darauf, die Mannschaft mit gestandenen Spielern zu verstärken und installierte mit Juan Jose Lopez einen alten Teamkameraden auf der Trainerbank. Der 60-Jährige, der als Aktiver über 400 Spiele für River bestritt und den Passarella in die Jugendabteilung des Klubs zurückholte, hat jedoch kaum Trainer-Erfahrung auf höchster Ebene.
Folgerichtig zog er sich im ersten Entscheidungsspiel in Cordoba den Unmut der Fans zu, als bekannt wurde, dass er die Mannschaft ohne Not umkrempeln und auf völlig unerfahrene Spieler wie den erst 19-jährigen Mittelfeldspieler Ezequiel Cirigliano setzen wolle.
Mit Tränen in den Augen saß er dann auch frustiert auf der Bank und musste sich Inkompetenz und Resignation vorwerfen lassen. Manche Medien forderten gar seine sofortige Ablösung. Auch Passarella musste sich scharfe Kritik anhören, weil er es nicht für nötig erachtete, den Weg nach Cordoba mit der Mannschaft anzutreten.
Mit dem Rücken zur Wand
Vor dem Rückspiel am Sonntag standen die Rot-Weißen also mit dem Rücken zur Wand. Mit Adalberto Roman, Paulo Ferrari und dem 37-jährigen Routinier Matias Almeyda fehlten drei Spieler gelbgesperrt. Darüber hinaus fürchtete man ob der Zuschauerausschreitungen in Cordoba - Vermummte stürmten das Spielfeld, schrien die eigenen Spieler an und griffen sie sogar tätlich an -, dass man das Rückspiel vor leeren Rängen austragen müsste.
Nachdem der mögliche Abstieg des Traditionsklubs mittlerweile zur Staatsaffäre geworden war, verfügte Staatspräsidentin Cristina Fernandez de Kirchner, dass das Spiel vor Publikum ausgetragen werden könne.
Vor allem sicherheitstechnische Aspekte sollen dabei eine Rolle gespielt haben. Tausende von Fans, darunter auch etliche gewaltbereite von der berüchtigten Fangruppierung "Los Borrachos del Tablon", vor verschlossenen Türen waren für die Entscheidungsträger ein zu hohes Risiko, außerdem war der Großteil der Karten bereits verkauft worden.
Schwere Ausschreitungen rund um das Stadion
2200 Polizisten sollten daher die Sicherheit gewährleisten. Polizei war es auch, die mit Wasserwerfern die zornige Menge auf den Tribünen unter Kontrolle hielten, während Ordner die Mannschaft nach Spielende im Mittelkreis schützen mussten.
Zu ihrem eigenen Schutz sollten die Spieler die Nacht im Stadion verbringen und auch die Fans von Belgrano waren noch stundenlang im El Monumental eingeschlossen.
Dass es rund um das Stadion in den Stadtteilen Belgrano und Nunez zu schweren Ausschreitungen kam, konnte aber auch das massive Polizeiaufgebot nicht verhindern. Aufgebrachte Fans sollen Autos und die Cafeteria des Stadions angezündet haben.
Die Bilder aus Buenos Aires jedenfalls zeigten bürgerkriegsähnliche Zustände. Eine Hauptstraße in der Nähe des Stadions war komplett verwüstet. Von mindestens 25 Verletzten, darunter sechs Polizisten, war die Rede.
Kein Superclasico in der nächsten Saison
So bitter dieser Abstieg für die Fans ist, die Zahlen sprachen schon vor dem Spiel klar gegen River: Seit acht Spielen war die Mannschaft sieglos, in 20 Spielen schoss man nur 15 Tore, nur ein einziges Mal konnte man mit einem Zwei-Tore-Unterschied gewinnen. In seinen zehn Heimspielen 2011 erzielte River nur elf Treffer, seit April reichte das nicht mehr für einen Sieg.
Die Augen der argentinischen Fußball-Welt waren also am Sonntag auf Buenos Aires gerichtet. Sogar Anhänger des Erzrivalen Boca Juniors hatten sich zu Wort gemeldet. Während ein Teil für den Konkurrenten natürlich nur Schadenfreude übrig hatte, erklärte ein anderer in einer Kolumne bei "Clarin": "Ohne sie werden wir nicht mehr wir sein."
Eine Saison in der Primera Division ohne Superclasico: das Undenkbare ist seit Sonntag Realität.