Kaum war das Spiel abgepfiffen und Borussia Dortmund auch aus der Europa League ausgeschieden, kam es zu einer nicht ungewohnten, aber angesichts der Umstände skurrilen Situation: Während die Regie im Ibrox Stadium die Musik aufdrehte und die 47.000 Rangers-Fans das Weiterkommen frenetisch feierten, rannten sechs Spieler des BVB ausdruckslos von Strafraum zu Strafraum.
Axel Witsel, Steffen Tigges, Youssoufa Moukoko, Reinier, Marin Pongracic und Felix Passlack mussten unter der Aufsicht eines Athletiktrainers eine kurze Extra-Schicht schieben. Gerade nach internationalen Spielen sind solche Läufe üblich, um den wenig oder gar nicht eingesetzten Akteuren noch einmal kurze Belastungsspitzen zu ermöglichen.
Diese Sechs bilden damit jedoch eine echte Ausnahme im Dortmunder Kader, zumindest nach derzeitigem Stand. Denn bei fast allen anderen Spielern der Borussia müsste man in einer idealen Welt die Belastung deutlich herunterschrauben, um mal wieder zu einer gesunden Balance zwischen Einsatzzeit und Verletzungsprävention zu gelangen.
Doch das ist im Grunde genommen die gesamte bisherige Spielzeit über nicht möglich gewesen. "Wir haben die ganze Zeit 100.000 Verletzte", klagte und überspitzte Mats Hummels am Donnerstagabend nach dem 2:2 in Glasgow.
BVB: Die Verletzungsseuche hat Dortmund fest im Griff
Zwar ist dieser Umstand mitnichten eine zulässige Begründung für "zu viele individuelle Fehler" (Hummels), die sich gleichsam wie ein roter Faden durch die BVB-Saison ziehen. Allerdings ist das vermeintliche Gejammer des Abwehrchefs, der vor dem zweiten Treffer der Schotten selbst entscheidend patzte, auch nicht unbegründet oder in der Bewertung gar gänzlich auszublenden.
Die Verletzungsseuche hat Dortmund seit dem Sommer fest im Griff. Nur einmal, kurz nach dem Jahreswechsel, hatte Trainer Marco Rose seine Mannschaft über zwei Wochen mal beinahe komplett beisammen. Doch auch da galt es, zuvor verletzte Spieler wie Manuel Akanji oder Raphael Guerreiro wieder einzugliedern.
Nach einer Erhebung der Website fussballverletzungen.com hatte in der Hinrunde kein Team in der Bundesliga mehr durchschnittliche Ausfalltage pro Spieler zu verzeichnen als Dortmund: 47,6. Insgesamt kam man bei einem 36-Mann-Kader auf 1715 Ausfalltage, wenngleich dort auch Langzeitverletzte wie Marcel Schmelzer, Mateu Morey oder Soumaila Coulibaly miteinbezogen wurden. Selbst ohne sie wäre der BVB auf einem Platz unter den letzten drei gelandet.
Kaum waren schließlich die ersten Spiele 2022 absolviert, war die Hoffnung auf eine Besserung der Personallage schon wieder dahin. So stand bis heute nur Witsel in allen 35 Pflichtspielen im Kader, lediglich eine Partie verpassten bislang Marco Reus und Ersatzkeeper Marwin Hitz.
Nur drei BVB-Auswärtssiege ohne Erling Haaland
Alle anderen Profis fielen gleich mehrfach oder auch langfristig aus. Dies spielt freilich hinein in die inkonstante und wacklige Saison, die die Dortmunder absolvieren. Rose hat darin nie Ausflüchte gesucht oder sich öffentlich beklagt. Er hat vielmehr und auch zu Recht damit argumentiert, dass ein Verein wie der BVB in der Lage sein muss, selbst unter solch erschwerten Bedingungen abzuliefern.
Nur zuletzt lamentierte Rose ein wenig mit dem Fakt, dass Erling Haaland "mittlerweile fast die Hälfte der Saison" ausfällt. Dennoch habe man viele Tore in der Bundesliga erzielt, meinte der Coach. Doch das mit Haaland die Tor-Garantie in 15 der 35 Pflichtspiele fehlte, wirkte sich auf die Mannschaft zweifelsfrei negativ aus. Nur drei Auswärtssiege gelangen beispielsweise ohne Haaland, der seit seinem Wechsel im Januar 2020 in 28 von 105 möglichen Pflichtspielen fehlte: in Bielefeld, bei Union Berlin sowie im Pokal bei Wehen Wiesbaden.
Auch in den beiden vergangenen Spielen gegen Gladbach und in Glasgow gesellten sich mit den nach monatelangen Verletzungen erst wieder genesenen Giovanni Reyna und Dan-Axel Zagadou sowie mit Thomas Meunier und Reus vier weitere Spieler zur langen Verletzungsliste. Eventuell fällt auch Emre Can wieder aus, der über starke Rückenschmerzen klagte.
BVB: Trotz Verletzungen etablierte sich kaum ein Konzept
Diese Umstände haben es unmöglich gemacht, dass sich eine Stammformation finden und einspielen konnte. Besonders in der arg löchrigen Defensive musste Rose permanent improvisieren, in der Besetzung der Viererkette sind beinahe alle erdenklichen Personalzusammensetzungen bereits ausgeschöpft worden.
Es war also gewiss nicht leicht für Rose und sein Trainerteam, dem oft so rätselhaft auftretenden Dortmunder Ensemble zu einer durchgehenden Stabilität zu verhelfen. Dass sich dennoch in zahlreichen Partien kaum ein erkennbares Konzept in Offensive wie Defensive oder eine feste Grundformation etablierte, lässt sich auch mit den vielen Verletzungen - deren häufiges Auftreten zwingend Teil der Saisonanalyse sein muss - nicht vollends rechtfertigen. Dafür waren zu viele Begegnungen des BVB, gerade auch mehrere siegreiche, zu sehr von der individuellen Klasse Einzelner abhängig.
BVB-Kader mangelt es nicht nur an Qualität
Übergeordnet betrachtet förderte diese Gemengelage in erster Linie zu Tage, dass es dem Kader der Borussia besonders auf den Positionen zwölf bis 18 an Qualität mangelt. Der Einfluss von den Bankspielern ist zu nichtig, die meisten von ihnen kämpfen ohnehin mit fehlendem Rhythmus oder einer schlechten Form.
Doch es zeigte sich eben auch, dass die etablierten Kräfte in dieser Zusammensetzung viel zu unregelmäßig ihr zweifelsfrei vorhandenes Personal ausschöpfen und der Kader nicht nur in der Breite Schlagseite hat. Das ist in Summe am Ende nicht ausreichend, um den eigenen Ambitionen gerecht zu werden - besonders denen, die über die nicht verhandelbare Champions-League-Qualifikation hinausgehen.