Jordan Pickford ist der coole Elfmeterkiller, Harry Kane der eiskalte Vorzeigeschütze - und selbst die Wissenschaft jubelt mit. Die lange Zeit traumatisierten Engländer haben sich zu Spezialisten im Elfmeterschießen entwickelt.
Ausgerechnet der 1996 im EM-Halbfinale gegen Deutschland als tragischer Fehlschütze in die Geschichtsbücher eingegangene Gareth Southgate sorgte für einen Paradigmenwechsel, drei Siege in vier Elfmeterschießen unter seiner Regie sind kein Zufall.
Das alte Monster unter dem Bett ist verjagt, von panischer Angst vor einem Elfmeter-Showdown im Finale gegen Spanien am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) keine Spur. Beim Sieg gegen die Schweiz im Viertelfinale habe man schließlich gesehen, dass sie sich einem perfekten Elfmeterschießen langsam nähern, erklärte der norwegische Sportpsychologe Geir Jordet der FAZ. Alle fünf Schützen verwandelten, auch Kane traf im Halbfinale souverän.
"Besser kann man den nicht schießen, diese Präzision und Schärfe. Der Keeper ist voll in der Ecke und schnuppert noch nicht mal dran. Der ist perfekt, der Elfmeter", schwärmte ARD-Experte Thomas Broich. Kanes Schuss erinnere ihn "ein bisschen an den Elfmeter von Andy Brehme 1990 im Finale, wo wir Weltmeister geworden sind", ergänzte Lothar Matthäus bei MagentaTV: "Man hat seine Konzentration gesehen, die Atemübung. Das Training macht sich bezahlt."
"Elfer-Professor" erkennt vier Kernelemente der Engländer
Southgate hat sich der "Wissenschaft" Elfmeterschießen nach seinem 1996er-Schuss in die Arme von Andreas Köpke ernsthaft angenommen, entwickelte spezielle Trainingsformen. Was genau? "Ein Geheimnis", sagte Pickford nach Hinweis eines Pressesprechers mit einem Grinsen. Bekannt ist, dass ein Professor der London School of Economics konsultiert wurde. Die These, dass Elfmeterschießen nicht trainiert werden kann, ist längst überholt.
Jordet, der sich seit Jahrzehnten mit der Psychologie des Elfmeterschießens beschäftigt, hat vier Kernelemente der englischen Herangehensweise ausgemacht. Erstens sei für jeden Schützen ein Begleiter eingeteilt, der ihn vom Punkt abholt. Außerdem stehe die Gruppe locker nebeneinander statt Arm in Arm, um den Spieler wieder schneller zu integrieren. Pickford bringe dem Schützen den Ball, um ein Gefühl des Zwei-gegen-Eins zu erzeugen. Und viertens fokussiere sich Southgate auf die Auswahl der Schützen und schicke alle Ersatzspieler beiseite.
Keeper Jordan Pickford mit deutlich besserer Quote
Zur "unerschütterlichen Gelassenheit" (Southgate) kommt nach jahrzehntelanger Suche ein Elfmetertöter im Tor. Pickford parierte seit 2018 vier von 14 Versuchen in Elfmeterschießen - seine Vorgänger hatten von 1990 bis 2012 eine miserable Quote: zwei gehaltene Elfmeter. Von 36.
Auch kleine Tricks können hilfreich sein: Gegen die Schweiz hatte Pickford einen Zettel auf seine Trinkflasche geklebt. "Spring links", war darauf für den Schweizer Manuel Akanji notiert. Pickford sprang nach links - und er parierte.
"Falls du dies hörst: Mach es anders! Nimm ein anderes Stück Papier oder kleb' es an den Pfosten", riet ihm Gary Lineker mit einem Augenzwinkern. Sonst werde sich im Finale ein Gegner "die Flasche anschauen". Ein unnötiges Risiko werden die Engländer sicher nicht eingehen. Schließlich setzte es die einzige Niederlage nach Elfmeterschießen unter Southgate ausgerechnet im EM-Finale 2021 gegen Italien - Deja-vu unerwünscht.