Cristiano Ronaldo und der schmale Grat, auf dem er wandert
Manchmal ist der Grat sehr schmal zwischen persönlichem Ehrgeiz und Sinnhaftigkeit für die Mannschaft. Das ist wahrscheinlich bei den meisten Torjägern dieser Welt so - und bei Cristiano Ronaldo ganz sicher. Und das soll auch so sein, das muss so sein. Anders wäre CR7 niemals so erfolgreich geworden und hätte der Fußball-Welt niemals derart viel Spektakel geschenkt.
Aber vor allem in Portugal fragt man sich ja schon seit längerem, ob der größte Superstar seiner Mannschaft mit seinem unstillbaren Ehrgeiz manchmal sogar hinderlich ist. Zum Beispiel, wenn er wie kurz vor der Halbzeitpause gegen Slowenien einen aussichtsreichen Freistoß von der linken Seite direkt aufs Tor zieht, um endlich seinen ersten Treffer bei dieser EM zu machen und damit ältester EM-Torschütze aller Zeiten zu werden. Die Freistoßposition war nämlich eigentlich vor allem für eine Flanke in die Mitte aussichtsreich, für einen direkten Versuch allerdings eher nicht. Dementsprechend aussichtslos war dann auch Ronaldos Versuch.
Im Gesamtbild betrachtet war das nur eine Kleinigkeit. Doch es verstärkte den Eindruck, der zuweilen entsteht, wenn man Portugal zuschaut. Den Eindruck, dass die vielen Hochbegabten, die um Ronaldo herum auflaufen, von dessen Präsenz manchmal eher gehemmt als beflügelt werden. Weil sie CR7 alleine aufgrund von dessen Selbstverständnis eben suchen müssen, das portugiesische Spiel dadurch aber mitunter ziemlich ausrechenbar wird.
Bitte nicht verspotten: Die Tränen des Cristiano Ronaldo
Es war eine unfassbare Dramatik, die sich rund um den Halbzeitpfiff in der Verlängerung des Achtelfinales zwischen Portugal und Slowenien ereignete. Portugal erhielt nach Foul an Diogo Jota einen Elfmeter, natürlich schnappte sich Cristiano Ronaldo den Ball.
Dem 39-Jährigen war schon von der ersten Sekunde an anzumerken, wie sehr er heute endlich sein erstes Tor bei dieser EM erzielen wollte. Persönlich, um abermals Geschichte zu schreiben und ältester EM-Torschütze aller Zeiten zu werden. Zum anderen aber natürlich, um seine Mannschaft in einem derart komplizierten Spiel in Führung zu bringen und den Traum vom EM-Titel aufrecht zu erhalten.
Doch Ronaldo scheiterte. Er visierte die von ihm aus gesehen rechte Ecke an, aber Sloweniens Weltklassekeeper Jan Oblak ahnte es. Er hechtete nach dem Ball und lenkte ihn um den Pfosten. Kurz darauf pfiff Schiedsrichter Daniele Orsato zur Pause in der Verlängerung. Und Ronaldo konnte seine Emotionen nicht mehr zurückhalten. Als Trainer Roberto Martínez noch einmal eine Ansprache an die Mannschaft richtete, fing Ronaldo hemmungslos an zu weinen. Man sah ihm an, wie sehr es ihm leidtat, seine Teamkollegen, sein Land, seine Liebsten gerade eben derart enttäuscht zu haben. Wie sehr er fürchtete, dass er damit seine vielleicht letzte Chance aus der Hand gegeben hat, noch einmal ein großes Turnier zu gewinnen.
"Zuerst war ich wahnsinnig traurig, jetzt bin ich glücklich. So ist der Fußball nun mal. Ich habe diesen Elfmeter verschossen, das ist mir selten passiert", sagte Ronaldo nach der Partie.
Ganz egal, wie sehr CR7 polarisiert, wie sehr man vielleicht Fan seines einstigen Dauerrivalen um den Ballon d'Or, Lionel Messi, ist und deshalb vollkommen unnötig Ronaldo dessen Erfolge missgönnt: In diesen Sekunden kam man nicht darum herum, tiefes Mitgefühl für einen der größten Fußballer aller Zeiten zu empfinden.
Noch beim Anstoß zur zweiten Halbzeit der Verlängerung sah man Ronaldo seine feuchten Augen deutlich an. Es war nicht nur eine der Szenen dieses Spiels, sondern jetzt schon der gesamten EM. Und natürlich werden sich viele, die Ronaldo vielleicht nicht mögen, nun dazu bemüßigt fühlen, ihn für seine Tränen zu verspotten. Dabei ist es genau diese Leidenschaft, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Das sollte man nicht verspotten, sondern vielmehr anerkennen. Zumal Ronaldo dann die Stärke hatte, im Elfmeterschießen noch einmal anzutreten und zu treffen. Und die Größe, sich danach bei den portugiesischen Fans für seinen vorherigen Fehlschuss zu entschuldigen.
Slowenien oder: Lehrstunde im Verteidigen
Cristiano Ronaldo, Rafael Leão, Bernardo Silva, Bruno Fernandes, João Cancelo - was Portugal an Qualität im Spiel nach vorne auf den Rasen schickte, war enorm. Umso höher ist die Defensivleistung der Slowenen zu bewerten. Noch dazu, weil sie es konstant über sogar 120 Minuten schafften, kompakt und konsequent zu bleiben.
Dabei fiel vor allem die Leidenschaft auf, mit der Sloweniens komplette Mannschaft Defensivaktionen anging. Wie sie es verstanden, einem fußballerisch überlegenen Gegner mit Zweikampfhärte den Schneid abzukaufen. Und wie sie wussten, dass genau darin ihre Chance lag.
Der herausragende Akteur dabei war mit Jaka Bijol ein Innenverteidiger, der ohnehin insgesamt eine starke EM spielte und sich mit seinen Leistungen sicher für höhere Aufgaben empfahl. Der 25-Jährige, der 2020/21 auch mal eine Saison bei Hannover 96 verbrachte, steht aktuell bei Udinese Calcio unter Vertrag. Einige Topklubs dürften sich seinen Namen spätestens nach dem Auftritt gegen Portugal notiert haben.