Joakim Maehle war nach dem Schlusspfiff in Tränen aufgelöst. Er, dessen Stern bei dieser EM als offensivstarker Linksverteidiger ein Stück weit aufgegangen war, war untröstlich. Denn der 24-Jährige war es, der gemeinsam mit Mathis Jensen den folgenschweren Zweikampf mit Raheem Sterling geführt hatte, der England am Ende von 120 hart umkämpften Minuten das erste Finale seit 1966 bescherte.
Denn der niederländische Schiedsrichter Danny Makkelie zeigte nach minimalem Kontakt zwischen Maehle und Sterling auf den Punkt. Eine sehr harte und aus der Linie fallende Entscheidung, aber eine, die nicht klar falsch und daher vom VAR nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Harry Kane verwandelte den Nachschuss, nachdem Kasper Schmeichel zunächst pariert hatte.
"Ich ging in den Strafraum, er hat sein rechtes Bein rausgestreckt und hat mein Bein berührt, also ist das Elfmeter", sagte Sterling zur umstrittenen und spielentscheidenden Szene in der 102. Minute. Zum Spielverlauf sagte er: "Wir mussten ans Eingemachte gehen. Wir haben zum ersten Mal im Turnier ein Gegentor bekommen und zeigten eine gute Reaktion. Mit unseren Beinen, unserer Aggressivität und Power wussten wir, dass sie irgendwann zusammenbrechen."
Zusammenbrechen. Genau das war es, was den Dänen in diesem Halbfinale gegen dominierende Three Lions passiert war. Denn ab der 60. wirkte die Überraschungsmannschaft des Turniers extrem müde und das Siegtor der Engländer schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Doch Dänemark, das durch einen traumhaften Freistoß durch Mikkel Damsgaard in Führung gegangen war, kämpfte sich in die Verlängerung, wo ein Zweikampf zwischen Maehle und Sterling dann die Entscheidung brachte.
"Zum ersten Mal lief alles für uns. Großes Kompliment an die Jungs. Was für ein Spiel, wir haben gut auf den Rückstand geantwortet, haben das Spiel kontrolliert. Das ist einer der stolzesten Momente meines Lebens", sagte Kapitän Kane nach dem Spiel.
"Ich weiß nicht, was ich denken soll", sagte ein überwältigter Trainer Gareth Southgate: "Ich wusste, dass wir das heute schaffen, aber ich wusste auch, dass es qualvoll wird. Es ist ein wundervoller Abend für unsere Fans, für unser Volk, für unser ganzes Land."
Hier geht es zu weiteren Reaktionen zur strittigen Elfmeter-Entscheidung.
England - Dänemark: Die Analyse zum Spiel
Englands Offensive tat sich zu Beginn gegen tief und kompakt stehende Dänen im 3-4-3 beziehungsweise 5-4-1 einmal mehr schwer. 75 Prozent der Angriffe der Three Lions im ersten Durchgang liefen über die Flügel, wo der junge Saka Sancho wieder auf die Bank verdrängt hatte. Erfolg oder überhaupt Torgefahr stellte sich allerdings zunächst nicht ein.
Die Hausherren waren sehr auf Stabilität bedacht und Dänemark suchte seinerseits sein Heil darin, das Zentrum durch die tief postierten Offensivkräfte Braithwaite und Damsgaard sowie die Sechser Höjbjerg und Delaney zuzumachen. So passierte in der ersten halben Stunde kaum etwas, abgesehen von einem Patzer von Torhüter Pickford, der Dänemark mit einem missglückten Abwurf beinahe das 1:0 schenkte.
Ein Traumfreistoß von Damsgaard war es dann, der die Statik des Spiels änderte (30.). England agierte mit dem Rückstand zielstrebiger und mit mehr Variabilität. Gerade der zuvor abgemeldete Kane sorgte selbst dafür, endlich Bindung zum Spiel zu bekommen und ließ sich fast auf die Höhe von Mount fallen.
So fiel auch der Ausgleich durch ein Eigentor von Kjaer kurz vor der Pause, den Kane in Spielmacher-Manier mit einem Schnittstellenpass auf Saka einleitete (39.). Der Arsenal-Youngster hatte kurz zuvor seinerseits über den Flügel eine Großchance von Sterling initiiert. Die Aktionen binnen 60 Sekunden zeigten, dass die Three Lions offensiv eine Schippe zugelegt hatten.
Nach dem Seitenwechsel wurde Dänemark zunächst aktiver: Dolberg prüfte Pickford aus der Distanz, Schmeichel zeigte eine Weltklasseparade gegen Maguire, der immer wieder bei Standards gefährlich per Kopf abschloss. Anschließend wirkten die Dänen zunehmend müder, weshalb Trainer Hjulmand nach 65 Minuten dreimal wechselte.
England wurde jedoch immer dominanter, die großen Chancen hatte der Weltmeister von 1966 aber nicht. Die Partie verflachte zunehmend und es ging folgerichtig in die Verlängerung. Dort wollte Southgate dann die Entscheidung erzwingen, brachte in Foden nochmal einen frischen Offensivspieler und wurde belohnt. Kane versenkte im Nachschuss einen sehr strittigen Elfmeter, nachdem Maehle Sterling im Sechzehner durch minimalen Kontakt zu Fall gebracht hatte.
England spielt somit am Sonntag gegen Italien sein erstes großes Endspiel nach 55 Jahren - und das abermals im Wembley. Dort, wo die Three Lions einst 1966 ihren ersten und bislang einzigen WM-Titel gegen Deutschland holten.
England - Dänemark: Die Aufstellungen
- England: Pickford - Walker, Stones, H. Maguire, Shaw - Phillips, Rice (95. Henderson), Saka (69. Grealish, 105. Trippier), Mount (95. Foden), Sterling - H. Kane
- Dänemark: Schmeichel - Christensen (79. Andersen), Kjaer, Vestergaard (105. Wind) - Stryger Larsen (67. Wass), Maehle, Delaney (88. Jensen), Höjbjerg, Braithwaite, Damsgaard (67. Poulsen) - Dolberg (67. Nörgaard)
England - Dänemark: Die Daten des Spiels
Tore: 0:1 Damsgaard (30.), 1:1 Kjaer (ET, 39.), 2:1 Kane (FE, 104.)
- Jordan Pickford hat einen neuen Rekord aufgestellt für die meisten gegentorlosen Minuten eines englischen Nationaltorhüters in Folge. Er überholte mit 721 Minuten Legende Gordon Banks, der zwischen Mai und Juli 1966 720 Minuten ohne Gegentor blieb.
- Mikkel Damsgaard war in sieben Startelfeinsätzen für Dänemark an acht Toren direkt beteiligt (vier Tore, vier Vorlagen).
- Im vorletzten Spiel dieser Europameisterschaft fiel der erste direkte Freistoßtreffer überhaupt im Turnier.
- Erstmals seit der Euro 2000 gingen beide EM-Halbfinals in die Verlängerung.
- Harry Kane ist nun gemeinsam mit Gary Linecker Englands Toptorschütze bei großen Turnieren mit zehn Treffern bei WM- und EM-Turnieren.
- Erstmals drehte England ein K.o.-Spiel bei einer EM nach Rückstand.
Der Star des Spiels: Harry Kane (England)
Ackerte viel, obwohl er kaum den Ball sah. Aber wenn, dann passierte für England stets was Gutes. Seine Einleitung des Ausgleichs war allein aufgrund des Laufweges und des Schnittstellen-Passes auf Saka pure Weltklasse. Außerdem zuvor schon mit einer starken Vorarbeit für Sterling, der eigentlich das 1:1 machen muss. Rieb sich im zweiten Durchgang in etlichen Zweikämpfen auf, hätte auch einen Elfmeter bekommen müssen. Hatte das 2:1 in der Verlängerung auf dem Fuß, das jedoch verhinderte Schmeichel stark. Belohnte sich selbst für seinen großen Kampf, als er seinen Elfmeter per Nachschuss zum siegbringenden 2:1 verwandelte. Eine gute, weil hochgradig mannschaftsdienliche Leistung des Spurs-Stars.
Der Flop des Spiels: Joakim Maehle (Dänemark)
Musste gegen Walker und Saka deutlich defensiver agieren, weshalb seine Stärken, die er im Verlauf der EM schon so oft gezeigt hat, kaum zur Geltung kamen. Hatte Saka zunächst gut im Griff, war dann aber zweimal orientierungslos, weil sich Kane fallen ließ. So kam England über seine Seite erst zu Sterlings Großchance und schließlich zum Ausgleich. In der Verlängerung dann der unglückliche Verursacher des spielentscheidenden Elfmeters. Maehle erwischte ausgerechnet im Halbfinale seinen schlechtesten Tag bei dieser EM.
Der Schiedsrichter: Danny Makkelie (Niederlande)
Vertretbare Entscheidung, den Freistoß zum 1:0 zu geben, weil Shaw Christensen aufreizend lange umklammerte. Ebenfalls richtig, Maguire die Gelbe Karte zu zeigen, nachdem der Innenverteidiger Kjaer im Luftzweikampf mit dem Ellenbogen erwischte. Wesentlich diskutabler seine Entscheidung gegen Elfmeter für England in der 74. Minute, als Kane nach Kontakt mit Norgaard im Sechzehner zu Boden ging. ZDF-Experte Manuel Gräfe war einverstanden, weil der Kontakt zu wenig für einen Strafstoß gewesen sei. Der VAR gab Makkiele Recht, dennoch eine strittige Entscheidung. Eine Entscheidung, an die er später vielleicht noch dachte, als er England einen dann doch auf den ersten Blick schmeichelhaften Strafstoß in der Verlängerung gab nach minimalem Kontakt zwischen Maehle und Sterling gab. Eine spielentscheidende Entscheidung, die tendenziell aber wohl richtig war. Bilder belegen, dass Maehle Sterling klar mit dem Knie an dessen Knie berührt. Allerdings lag auch ein zweiter Ball im Spiel und überhaupt passte diese kleinliche Entscheidung nicht zur Linie des Niederländers. "Ich persönlich hätte ihn nicht gegeben, keine gute Entscheidung", sagte Gräfe im ZDF zu der umstrittenen Szene.